Ukraine

Im Epizentrum des GAUs

Kernkraftwerk Tschernobyl 1986: Im Vordergrund der zerstörte Reaktorblock 4.
Kernkraftwerk Tschernobyl 1986: Im Vordergrund
der zerstörte Reaktorblock 4.
© ZUFAROV / AFP / picturedesk.com

Vor 35 Jahren ereignete sich in Tschernobyl in der heutigen Ukraine die größte Atomkatastrophe in der Geschichte der friedlichen Kernenergienutzung. Ein Museum in Kiew erinnert daran.

In einem 1912 errichteten Gebäude im Kiewer Stadtteil Podil ist das nationale Tschernobyl-Museum untergebracht. Es erinnert an den Reaktorunfall, der sich vor 35 Jahren im Kernkraftwerk Tschernobyl ereignete – rund 130 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt.
1986 war die Ukraine eine Teilrepublik der Sowjetunion. Als am 26. April Reaktorblock 4 des Kraftwerks explodierte und zum „größten anzunehmenden Unfall“ (GAU) führte, ahnten zunächst nur wenige, wie bedrohlich die Lage war. Zur Brandbekämpfung im Reaktor 4 wurden Feuerwehren aus zahlreichen Städten herangezogen, darunter von der inzwischen stillgelegten Feuerwache im Zentrum Kiews. 1992 wurde in dem ehemaligen Feuerwehrgebäude die erste Gedenkstätte errichtet. Erst wenige Monate zuvor war die Ukraine ein eigenständiger Staat geworden. Anfangs umfasste die Sammlung nur rund 200 Objekte; nach und nach wurde die Ausstellungsfläche erweitert und die Zahl der Exponate vervielfacht. 1996 erhielt die Dauerausstellung den Status eines nationalen Museums.

7.000 Exponate.

Schutzanzüge für Liquidatoren: 600.000 waren bis 1991 in Tschernobyl im Dekontaminationseinsatz.
Schutzanzüge für Liquidatoren: 600.000 waren bis
1991 in Tschernobyl im Dekontaminationseinsatz.
© Gregor Wenda

Heute sind auf 1.100 Quadratmetern, aufgeteilt auf drei große Räume, mehr als 7.000 Exponate zu besichtigen, in Archiven und Lagern befinden sich zahlreiche weitere Objekte. Ausgestellt sind Bilder, Landkarten, Baupläne, Ausweise und ursprünglich klassifizierte Dokumente, die noch den Stempel „Geheime Verschlusssache“ tragen. In der Sowjetunion waren Kernkraftwerke militärische Objekte und unterlagen höchster Geheimhaltung. Auch Strahlenschutzanzüge, technische Instrumente oder Erinnerungsstücke aus der Sperrzone sind ausgestellt. Verschiedene Installationen sollen die Tragik des Unfalls deutlich machen.
Der von der Eingangshalle in die Museumsräumlichkeiten führende Stiegenaufgang ist von 76 Ortstafeln gesäumt – sie repräsentieren jene Orte, die durch die hohe Strahlenbelastung nach dem Reaktorunglück unbewohnbar geworden sind. Ein entwurzelter Apfelbaum soll die schwer getroffene Natur symbolisieren. Vor dem Museum sind Einsatzfahrzeuge aufgereiht, wie sie 1986 in Tschernobyl zum Einsatz kamen: ein Feuerlöschwagen, ein Krankenwagen, ein Polizeiauto und ein Radpanzer.
Vieles im Museum ist interaktiv, etwa eine 3-D-Animation des Kraftwerks vor und nach der Detonation, die auch die Errichtung einer Schutzhülle („Sarkophag“) über dem zerstörten Reaktor zeigt. Ton- und Bilddokumente sind über Terminals abrufbar, die großteils ukrainischen Aufschriften können mit einem Audioguide auch auf Englisch erschlossen werden.
Das Tschernobyl-Museum soll nicht nur die Geschichte der Katastrophe sichtbar machen, sondern auch soziale und ökologische Auswirkungen beschreiben und über Risiken und Möglichkeiten der Kernkraft insgesamt informieren. Das aus dem Lateinischen entlehnte Forschungsmotto des Museums lautet „Est dolendi modus, non est timendi“ („Der Schmerz hat Grenzen, die Furcht hat keine.“). Veranstaltungen und Führungen setzen spezielle Schwerpunkte. Während der Lockdowns in der Corona-Pandemie war das Museum ausschließlich via Internet zugänglich, wobei alle Innenräume virtuell besucht werden konnten. Weitere Informationen und aktuelle Neuigkeiten bietet eine Facebook-Seite. Für Forscherinnen und Forscher gibt es eigene Kontakt- und Recherchemöglichkeiten.

1.23 Uhr

1.23 Uhr steht auf einer Uhr, die über einem maßstabgetreuen Modell des Reaktors Nummer 4 hängt. Um diese Uhrzeit explodierte der Reaktorblock nach einer unkontrollierbaren Kettenreaktion. Ausgangspunkt war ein „Stresstest“, bei dem der Atomreaktor planmäßig langsam heruntergefahren werden sollte, während zugleich verschiedene Sicherheitsroutinen überprüft werden sollten. Das Kühlsystem kollabierte. Die freiwerdenden Kräfte zerschlugen das Dach des Reaktorbehälters und das radioaktive Material gelangte in die Atmosphäre.

Sperrzone.

Tschernobyl-Museum in Kiew: Einsatzfahrzeuge aus dem Katastrophenjahr 1986 vor dem Museumsgebäude.
Tschernobyl-Museum in Kiew: Einsatzfahrzeuge
aus dem Katastrophenjahr 1986 vor dem Museumsgebäude.
© Gregor Wenda

Rund um den zerstörten Reaktorblock wurden mehrere Sperrkreise gezogen. Als sofortige Evakuierungszone wurde ein Gebiet im 10-Kilometer-Radius festgelegt, knapp 120.000 Menschen mussten ihre Häuser und Wohnungen verlassen – anfangs noch mit der Hoffnung, bald wieder zurückkommen zu können. Insgesamt wurden über 350.000 Menschen aus der Region umgesiedelt. Die ursprüngliche Sperrzone von 30 Kilometern rund um das Atomkraftwerk wurde mehrmals erweitert. Derzeit ist das Sperrgebiet, das umzäunt und streng gesichert ist, rund 4.300 Quadratkilometer groß. Es besteht seit Ende 1991 aus einer ukrainischen und einer weißrussischen Zone. Vor allem in den ersten zehn Tagen wurde große radioaktive Mengen, insbesondere Iod-131, Cäsium-134 und Cäsium-137, auf den heutigen Staatsgebieten der Ukraine, von Belarus und der russischen Föderation freigesetzt. Mehr als drei Millionen Menschen in der Region waren am stärksten betroffen, die Strahlung zog aber auch nach Mitteleuropa und Skandinavien. In Schweden schlugen am 28. April 1986 atomare Strahlenmessgeräte an und ließen erkennen, dass in der Sowjetunion ein schwerwiegendes Reaktorunglück passiert sein musste. 
Die Öffentlichkeit war anfangs nicht informiert worden, lediglich in einer kurzen Meldung über die sowjetische Presseagentur TASS wurde von einem „Unfall“ in einem Kernkraftwerk berichtet, bei dem einer der Reaktoren „beschädigt“ worden sei.

Ausbreitung der Atomwolke.

Eine Animation im Museum zeigt die Ausbreitung der Atomwolke, die am 1. Mai 1986 über weiten Teilen Europas schwebte. Nach rund 80 Stunden kam die Strahlenlast über Österreich: Vor allem Cäsium-137 ist zum Teil bis heute in Waldböden zu finden, wenngleich meist nur noch in winzigen Mengen, wie im Bericht „Radioaktivität und Strahlung in Österreich 2017 bis 2019“ des Umwelt- und des Gesundheitsministeriums festgehalten ist.
76 Städte und Dörfer wurden völlig stillgelegt. Vereinzelt sind frühere Bewohner der evakuierten Orte später in die Sperrzone zurückgekehrt und leben dort ohne Erlaubnis. Dazu kommen zahlreiche Personen, die bis  heute beim – im Jahr 2000 endgültig stillgelegten – Kernkraftwerk Tschernobyl beschäftigt sind, etwa für Forschungstätigen oder Arbeiten an der Schutzhülle über Reaktor 4, einer 29.000 Tonnen schweren Stahlkonstruktion.
Die Ausmaße der verstrahlten Zone macht ein eigener Bereich im Museum sichtbar, unter anderem mit einem dreidimensionalen Reliefmodell. Hinsichtlich des Umfangs gesundheitlicher Folgewirkungen des GAUs – ausgehend von unmittelbaren Todesfällen bis hin zu chronischen Erkrankungen – gehen die wissenschaftlichen Annahmen weit auseinander.

Liquidatoren.

Warnschild in der Sperrzone.
Warnschild in der Sperrzone.
© Gregor Wenda

Wenige Stunden nach der Explosion am 26. April 1986 trat das Politbüro in Moskau zusammen und beriet die Lage. Eine Expertenkommission wurde eingesetzt. Da es das Ziel der sowjetischen Führung war, den Rest des Kraftwerks in Tschernobyl – insbesondere den benachbarten Reaktorblock 3 – weiterlaufen zu lassen, war man bemüht, nicht nur den Brand und die unmittelbare Strahlung zu bekämpfen, sondern das Gebiet umfassend zu dekontaminieren, um dort auch in Zukunft weiter arbeiten zu können.
Über 600.000 „Liquidatoren“ aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion – viele davon aus dem militärisch-industriellen Bereich – kamen zwischen 1986 und 1991 zum Einsatz. Allein zwischen April und November 1986 waren über 90.000 Spezialisten in der 30-Kilometer-Zone tätig. Bedienstete des Innenministeriums und des Geheimdienstes KGB waren in diese Zahl nicht eingerechnet. 
Aufgrund der hohen Strahlenbelastung durften viele der Liquidatoren nur sehr kurze Zeit in Tschernobyl bleiben – etwa auf dem Dach von Block 3 für 30 Sekunden bis zu drei Minuten. Nicht wenige waren jedoch gezwungen, sich einige Tage oder Wochen in der verseuchten Zone aufzuhalten. Im Tschernobyl-Museum werden die Schicksale der Liquidatoren beleuchtet, ihre gefährlichen Einsätze und Arbeitsumstände. Mehr als 5.000 Namen sind in einer Online-Datenbank gesammelt worden. Das „Erinnerungsbuch“ enthält neben den Namen Fotos und Daten des Einsatzes. Nicht erwähnte Betroffene können auf Antrag in die Liste der Liquidatoren eingetragen werden; Formulare liegen im Museum auf.

Kinderschicksale.

In einem Museumsraum sind an einer Wand 400 Fotos von Kindern angebracht, die in den Orten rund um das Kernkraftwerk lebten. Sie sollen den jungen Menschen ein Gesicht geben, die durch das Reaktorunglück entwurzelt wurden, Familienmitglieder verloren, selbst erkrankten oder starben. Reste einer Kirche des evakuierten Dorfes Krasno aus dem 19. Jahrhundert bringen religiöse Bezüge in die Dauerausstellung. An Ort und Stelle findet man kaum noch Spuren; Plünderer haben im Laufe der Jahre ungeachtet des hohen Verstrahlungs-Risikos aus dem Sperrgebiet fast alles mitgenommen, was von Wert war. Auch vor kirchlichen Bauten wurde nicht Halt gemacht.
Der Fußboden des Museumssaales ist mit quadratischen Kacheln ausgelegt, die an die Bodenplatten des zerstörten Reaktorblocks 4 erinnern. In einer archenförmigen Konstruktion in der Mitte des Raumes können Besucher Stofftiere hinterlassen, um an die Puppen und Spielzeuge zu erinnern, die bei den Räumungen zurückbleiben mussten. Die Stadt Pripjat mit 50.000 Einwohnern, viele davon Bedienstete des Kernkraftwerks, wurde eineinhalb Tage nach der Explosion in nur wenigen Stunden komplett geräumt. Sie ist heute eine teils verfallene, von der Natur zurückeroberte Geisterstadt. 
Seit einigen Jahren gibt es die Möglichkeit, bei geführten Exkursionen die Sperrzone rund um das Kernkraftwerk Tschernobyl und auch die Stadt Pripjat zu besuchen.

Historischer Wendepunkt.

Michail Gorbatschow, letzter Staatspräsident der Sowjetunion, schrieb in einem Essay zum Buch „Der lange Schatten von Tschernobyl“ aus dem Jahr 2014, dass der Atomunfall in Tschernobyl „vielleicht mehr noch als die von mir begonnene Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion fünf Jahre später“ gewesen sei. Der GAU habe einen historischen Wendepunkt dargestellt: „Es gab die Zeit vor der Katastrophe, und es gibt die völlig andere Zeit, die danach folgte.“

Gregor Wenda

chornobylmuseum.kiev.ua 


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 7-8/2021

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