Judikatur

Straßenverkehr und Recht

Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs zu den Themen Vorrangverletzung, Entzug der Lenkberechtigung sowie Geschwindigkeitsüberschreitung.

Vorrangverletzung

Gemäß § 19 Abs. 7 StVO darf der Wartepflichtige durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Vorrangberechtigten weder zu unvermitteltem Bremsen noch zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen.
Gemäß § 19 Abs. 7 StVO
darf der Wartepflichtige durch Kreuzen,
Einbiegen oder Einordnen die Vorrangberechtigten
weder zu unvermitteltem Bremsen
noch zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen.

Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Amstetten wurde einem Lenker angelastet, als Wartepflichtiger aufgrund eines Stoppschildes durch Kreuzen einer Landstraße eine vorrangberechtigte Fahrzeuglenkerin zum unvermittelten Bremsen ihres Fahrzeuges genötigt und dadurch einen Verkehrsunfall verursacht zu haben. Er wurde zu einer Geldstrafe von 140 Euro verurteilt.
In seiner Beschwerde rügte der Lenker fehlende Feststellungen darüber, ob für ihn schon beim Einfahren in die Kreuzung das im Vorrang befindliche Fahrzeug erkennbar gewesen wäre, in welcher Entfernung sich die beteiligten Fahrzeuge befunden hätten und mit welchen Geschwindigkeiten gefahren worden sei.
Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wies die Beschwerde als unbegründet ab und stellte fest, der Lenker hätte das andere Fahrzeug rechtzeitig wahrnehmen können. Selbst wenn das im Vorrang befindliche Fahrzeug mit einer überhöhten Geschwindigkeit unterwegs gewesen sein sollte, hätte der Unfallgegner deren Lenkerin nicht zu einem unvermittelten Bremsen oder Auslenken zwingen dürfen. Schließlich könne auch das Argument, die Lenkerin hätte gar nicht gebremst oder vielleicht sogar die Geschwindigkeit erhöht, die Verwirklichung der objektiven Tatseite nicht verhindern (VwGH 8.5.1979, 0264/79).
Dagegen erhob der Lenker Revision und machte geltend, das Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab. Die Unfallgegnerin hätte ihre Geschwindigkeit nur leicht herabsetzen müssen, um eine Kollision zu verhindern.
Der VwGH erachtete die Revision für zulässig und begründet: Es wäre denkbar, dass der Vorrangberechtigte den Verkehrsunfall durch Bremsen oder Ablenken in einer ihm zumutbaren Weise (vgl. OGH 11.3.1980, 2 Ob 18/80, ZVR 1980, 11/335) hätte verhindern können, jedoch aufgrund eines Reaktionsfehlers tatsächlich nicht verhindert hat. Allein die Tatsache, dass es zu einem Verkehrsunfall gekommen sei, schließe nicht mit ein, dass der Vorrangberechtigte zu einem unvermittelten Bremsen oder Ablenken seines Fahrzeuges genötigt und sohin sein Vorrang verletzt worden sei (vgl. VwGH 20.9.1989, 89/03/0150). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes könne von einem Verstoß des Wartepflichtigen nicht gesprochen werden, wenn der Vorrangberechtigte durch das in die Vorrangstraße einfahrende Fahrzeug lediglich zu einer durch bloßes Wegnehmen vom Gas zu erreichenden Mäßigung seiner Geschwindigkeit verhalten werde. „Eine Verletzung des Verbotes setzt voraus, dass sich die beteiligten Fahrzeuge im Zeitpunkt der Einleitung des unvermittelten Bremsmanövers durch den Vorrangberechtigten bereits in einer solchen geringen Entfernung voneinander befinden, dass das Bremsen bzw. Ablenken des Fahrzeuges zur Vermeidung eines Unfalles erforderlich ist (vgl. VwGH 22.10.1982, 80/02/ 2243)“, befand der VwGH. Es wäre daher erforderlich gewesen, die Geschwindigkeiten und Entfernungen der beteiligten Fahrzeuge zu dem Zeitpunkt festzustellen, als die Vorrangberechtigte auf das Einfahren des Unfallgegners durch bloßes Wegnehmen vom Gas hätte reagieren müssen. Das Erkenntnis wurde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

VwGH Ra 2019/02/0162
15.12.2020

Entzug der Lenkberechtigung

Mit Bescheid vom 21. Februar 2020 entzog die Bezirkshauptmannschaft Klagenfurt-Land eine Lenkberechtigung für die Dauer der gesundheitlichen Nichteignung des Inhabers. Begründend führte die Bezirkshauptmannschaft aus, sie habe dem Lenker bereits mit Bescheid vom 5. März 2019 die Lenkberechtigung aufgrund eines von ihm im alkoholisierten Zustand verursachten Verkehrsunfalls für sieben Monate entzogen und neben einer Nachschulung die Beibringung eines amtsärztlichen Gutachtens und einer verkehrspsychologischen Stellungnahme angeordnet. Diese hätten eine mangelnde gesundheitliche Lenkeignung und unzureichende Bereitschaft zur Verkehrsanpassung ergeben.
Das Landesverwaltungsgericht Kärnten wies die Beschwerde nach einer mündlichen Verhandlung ab. Es stützte die Entziehung der Lenkberechtigung auf die sich aufgrund der hohen Alkoholisierung am Tattag aus den Leitlinien des BMVIT ergebende Annahme eines chronischen Alkoholkonsums.
Der Lenker erhob Revision. Zur Zulässigkeit der Revision brachte er vor, das angefochtene Erkenntnis widerspreche der hg. Judikatur (VwGH 20.9.2018, Ra 2017/ 11/0284) in zweifacher Hinsicht: Einerseits rechtfertige ein durch hohe Alkoholisierung am Vorfallstag begründeter Verdacht am Nichtbestehen der gesundheitlichen Lenkeignung allein nicht die Entziehung der Lenkberechtigung. Andererseits sei das amtsärztliche Gutachten nicht schlüssig.
Der Verwaltungsgerichtshof erachtete die Revision für zulässig und begründet: Wie der Verwaltungsgerichtshof in Erkenntnis VwGH 20.9.2018, Ra 2017/ 11/0284, ausgeführt habe, komme einerseits den genannten „Leitlinien“ keine normative Wirkung zu, und müsse andererseits davon ausgegangen werden, dass die FSG-GV nicht zu Grunde lege, jedes Alkoholdelikt von über 1,6 Promille rechtfertige bereits die Annahme eines chronischen Alkoholkonsums mit besonderer Gewöhnung und Verlust der kritischen Einschätzung des Verkehrsrisikos. In demselben Erkenntnis legte der Verwaltungsgerichtshof auch dar, dass allein eine hohe Alkoholisierung noch kein Fehlen der gesundheitlichen Eignung begründe. „Wenn überdies lediglich Hinweise auf gesundheitliche Einschränkungen bestehen, so rechtfertigt dies im Hinblick auf § 24 Abs. 4 erster Satz FSG noch keine Entziehung der Lenkberechtigung“, folgerte das Höchstgericht.
Es genüge aber auch das Gutachten des Amtssachverständigen nicht den Anforderungen an ein schlüssiges Gutachten: Eine sachverständige Äußerung, die sich in der Abgabe eines Urteiles erschöpfe, aber weder die Tatsachen, auf die sich dieses Urteil gründe, noch die Art, wie diese Tatsachen ermittelt worden seien, erkennen lasse, sei mit einem wesentlichen Mangel behaftet und als Beweismittel unbrauchbar. „Das Gutachten des Amtssachverständigen entspricht diesen Voraussetzungen schon deshalb nicht, weil darin lediglich das verkehrspsychologische Gutachten zitiert wird“, so der VwGH weiter. Da sich das Verwaltungsgericht auf ein unschlüssiges Sachverständigengutachten stützte, war das Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

VwGH Ra 2020/11/0146,
5.11.2020

Geschwindigkeitsüberschreitung

Wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 46 km/h (nach Abzug der Messtoleranz) wurde eine Geldstrafe in der Höhe von 350 Euro verhängt.
Der Lenker erhob Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich. Mit Schreiben seines Rechtsvertreters wurde die Beschwerde auf die Strafhöhe eingeschränkt und mitgeteilt, dass an der mündlichen Verhandlung weder der Lenker noch sein Rechtsvertreter teilnehmen könnten. Für den Fall, dass das Verwaltungsgericht die Verhandlung durchführe, werde beantragt, eine Ausfertigung des Verhandlungsprotokolls gemeinsam mit dem Erkenntnis zuzustellen. Das Verwaltungsgericht führte eine öffentliche mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Parteien durch und wies die Beschwerde des Lenkers als unbegründet ab.
Zur Strafbemessung führte das Verwaltungsgericht aus, dass sich im Behördenakt eine einschlägige Vormerkung befinde. Es könne daher nicht von Unbescholtenheit ausgegangen werden. Die Vormerkung sei erschwerend zu würdigen, jedoch dürfe aufgrund des Verschlechterungsverbots keine höhere Geldstrafe als im angefochtenen Straferkenntnis verhängt werden. Das Verschulden werde als im Bereich der groben Fahrlässigkeit liegend beurteilt. Es liege kein Milderungsgrund vor. Weiters spiele der Gedanke der Generalprävention eine Rolle, sei die Verwaltungsübertretung doch in einem Bereich auf der Autobahn begangen worden, in dem der komplette Schwerlastverkehr zur Durchführung von Lkw-Kontrollen von der Autobahnfahrbahn ausgeleitet werden sollte. In einem derartigen Bereich mit der angelasteten Geschwindigkeit von 126 km/h zu fahren, bedeute die Herbeiführung einer großen Gefahrensituation.
Dagegen erhob der Lenker außerordentliche Revision und machte geltend, das Verwaltungsgericht habe gegen das Doppelverwertungsverbot verstoßen. Der Verwaltungsgerichtshof erachtete die Revision für zulässig und auch berechtigt: Gemäß der Judikatur zum Doppelverwertungsverbot dürften Umstände, die für den Tatbestand oder den Strafsatz relevant seien, nicht noch zusätzlich als Strafzumessungsgründe berücksichtigt werden.
Das Verwaltungsgericht führte zur Strafbemessung unter anderem aus, dass es die Herbeiführung einer großen Gefahrensituation bedeute, in dem näher genannten Bereich mit der angelasteten Geschwindigkeit von 126 km/h zu fahren, da die sich rechtskonform verhaltenden Fahrzeuglenker mit mehr als 40 km/h langsamer unterwegs seien. „Wie die Revision zutreffend ausführt, war im gegenständlichen Fall das Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung bereits für den anzuwendenden Strafsatz relevant, weshalb dieses Kriterium nicht auch noch in die Strafbemessung hätte einfließen und auch nicht als außergewöhnlich hohes Verschulden gewertet werden dürfen“, meinte der VwGH. Der Gesetzgeber habe die mit einer erhöhten Geschwindigkeitsüberschreitung einhergehenden Umstände bereits durch die Gliederung der Absätze in § 99 StVO mit ihren unterschiedlichen Strafrahmen entsprechend gewichtet.
Soweit der Lenker einwendete, das Verwaltungsgericht hätte seine Entscheidung mündlich verkünden müssen, werde damit ebenfalls ein Abweichen von der hg. Judikatur aufgezeigt: Die Verkündung der Entscheidung direkt nach der Verhandlung stelle den gesetzlichen, wenn auch in der Praxis nicht immer umsetzbaren, Regelfall dar. Sei eine anschließende Verkündung nicht möglich, etwa wegen der Komplexität der Sach- oder Rechtslage, habe die Entscheidung schriftlich zu ergehen. Bedürfe die Fällung des Erkenntnisses reiflicher Überlegung, so könne das Verwaltungsgericht von der sofortigen Verkündung Abstand nehmen, andernfalls belaste die rechtswidrige Unterlassung der Verkündung durch das Verwaltungsgericht das Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Das Erkenntnis wurde daher aufgehoben.

VwGH 21.7.2020
Ra 2020/02/0011

Valerie Kraus


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 7-8/2021

Druckversion des Artikels (344 kB)