Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, dass die österreichischen Behörden ihren positiven Verpflichtungen in diesem Fall häuslicher Gewalt nachgekommen sind.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand,
dass die österreichischen Behörden ihren positiven Verpflichtungen
in diesem Fall häuslicher Gewalt nachgekommen sind. © Gregor Wenda

Richtungsweisende Entscheidung

Im Juni 2021 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in ihrer Entscheidung zu „Kurt gegen Österreich“ weitreichende Aussagen zu Fällen häuslicher Gewalt getroffen.

Die große Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in ihrem rechtskräftigen Urteil vom 15. Juni 2021 im Fall Kurt gegen Österreich, Nr. 62903/15, mehrheitlich (mit einem Votum von 10:7 Stimmen) festgestellt, dass keine Verletzung des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) durch Österreich vorliege. Außerdem erkannte der Gerichtshof auch keinen Grund für eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung Österreichs aus Art 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit). Das Beschwerdevorbringen betreffend Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) hat der Gerichtshof einstimmig als verspätet zurückgewiesen. Dem Urteil sind zustimmende und abweichende Meinungen einzelner Richter angeschlossen. Vorgelagert war eine Entscheidung des EGMR vom 4. Juli 2019, die einstimmig ebenfalls keine Verletzung des Artikels 2 der EMRK festgestellt hatte. Gegen diese Entscheidung hatte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Verweisung an die Große Kammer des EGMR eingebracht.

Fakten der Beschwerde.

Mit der Entscheidung der Großen Kammer hat der EGMR grundsätzliche und weitreichende Aussagen zu Fragen der Verpflichtung der Behörden, tödliche häusliche Gewalt zu verhindern, getroffen. Dem Verfahren lag ein Fall häuslicher Gewalt samt Mord und Selbstmord aus dem Jahr 2012 zugrunde: Die Beschwerdeführerin sowie ihr Ehemann und zwei Kinder lebten in St. Pölten. Immer wiederkehrende Probleme mit dem Ehemann hatten im Jahr 2010 zur Verhängung eines Betretungsverbotes geführt, auch eine Verurteilung des Landesgerichts Graz wegen Körperverletzung aus dem Jahr 2010 lag vor. Nach einer neuerlichen Attacke im Mai 2012 reichte die Beschwerdeführerin die Scheidung ein und erstattete Anzeige bei der Polizei. In weiterer Folge wurde ein Betretungsverbot (eheliche Wohnung, Wohnung der Schwiegereltern) erlassen, nicht jedoch die U-Haft verhängt. Der siebenjährige Sohn der Beschwerdeführerin wurde am Vormittag des 25. Mai 2012 von seinem Vater vor den Augen seiner Schwester in einer Volksschule in St. Pölten durch einen Schuss in den Kopf lebensgefährlich verletzt. Anschließend beging der Mann Selbstmord. Das Kind starb zwei Tage später an seinen Verletzungen.
Die Beschwerdeführerin warf den österreichischen Behörden (damals: Bundespolizeidirektion St. Pölten sowie Justizministerium und Innenministerium) vor, nicht alle erforderlichen Maßnahmen getroffen zu haben, den Mord an ihrem Sohn und somit eine Gewalteskalation verhindert zu haben und erhob Amtshaftungsklage gegen die Republik Österreich.
Die Klage wurde innerstaatlich mit der Begründung abgewiesen, dass im relevanten Zeitraum die vom Ehemann ausgehende unmittelbare Lebensgefahr nicht erkennbar gewesen sei. Im Verfahren vor dem EGMR warf die Beschwerdeführerin Österreich wie schon im Amtshaftungsverfahren vor, dass die Strafverfolgungsbehörden trotz der Vorgeschichte geeignete Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Tat unterlassen hätten.

Zum Verfahren.

Der EGMR, den die Beschwerdeführerin nach Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges angerufen hatte, stellte mit dem genannten Urteil 2019 einstimmig fest, dass keine Verletzung des Art. 2 EMRK vorgelegen sei. Das österreichische Recht bot zum Zeitpunkt der Ereignisse, also im Jahr 2012, einen ausreichenden normativen Rahmen, um potenzielle Opfer vor häuslicher Gewalt zu schützen. Dies betrifft sowohl das sicherheitspolizeiliche Betretungsverbot zum Schutz vor Gewalt gemäß § 38a SPG, als auch die zivilgerichtliche einstweilige Verfügung zum Schutz vor Gewalt in Wohnungen oder zum allgemeinen Schutz vor Gewalt nach der Exekutionsordnung (EO). Nach Stattgebung des Antrags auf Verweisung an die Große Kammer am 4. November 2019 wurde im dortigen Verfahren auch eine Videokonferenz durchgeführt. Diese fand am 17. Juni 2020 statt und neben der Anwältin der Beschwerdeführerin hatte die österreichische Delegation (Vertreter von BKA, BMEIA, BMI und BMJ) die Gelegenheit, die schriftliche Stellungnahme der österreichischen Bundesregierung darzulegen und auf Fragen der Richter zu antworten. Am Verfahren vor der Großen Kammer beteiligte sich eine Reihe von österreichischen und europäischen Gewaltschutzverbänden mit Drittinterventionen, zum Beispiel der Bundesverband der Gewaltschutzzentren Österreichs, das European Human Rights Advocacy Centre (EHRAC), der Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF) und Women against violence Europe (WAVE). Die offizielle Verkündung des Urteils erfolgte am 15. Juni 2021 vor dem EGMR in Straßburg im Beisein des Leiters der Ständigen Vertretung Österreichs beim Europarat.

Zur Begründung.

Der EGMR stimmte mit der österreichischen Bundesregierung überein, dass auf der Grundlage dessen, was den Behörden zum maßgeblichen Zeitpunkt bekannt war, keine Anzeichen für eine reale und unmittelbare Gefahr weiterer Gewalt gegen den Sohn der Beschwerdeführerin außerhalb der Bereiche, für die das Betretungsverbot erlassen worden war, gegeben waren, geschweige denn eine tödliche Gefahr. Der EGMR fand keinen Grund, die Entscheidung, die Untersuchungshaft des Vaters nicht anzuordnen, in Frage zu stellen. In diesem Zusammenhang wiederholte der EGMR, dass nach Artikel 5 EMRK (Recht auf Freiheit) eine Inhaftierung nur dann zulässig sei, wenn sie mit dem innerstaatlichen Recht in Einklang stehe.
Der EGMR folgte der Argumentation der österreichischen Prozessvertretung, dass im Amtshaftungsverfahren sorgfältig erhoben und begründet worden sei, warum vor dem Hintergrund der seinerzeit verfügbaren Informationen im konkreten Fall eine Festnahme oder die Verhängung der Untersuchungshaft nicht geboten war.

Fragestellungen.

Der Gerichtshof behandelte folgende wesentliche Fragestellungen: Waren die Behörden ihren positiven Verpflichtungen aus Artikel 2 EMRK nachgekommen, um das zum Recht auf Leben des Sohnes der Beschwerdeführerin zu schützen? Hätten die Behörden – unter Berücksichtigung der bekannten Fakten – zu der Einschätzung gelangen können oder sollen, dass es ein tatsächliches und unmittelbares Risiko eines Angriffs auf das Leben oder den Körper eines Familienmitglieds der Beschwerdeführerin, insbesondere der Kinder, gab? Führten die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und auch die Staatsanwaltschaft, eine Bewertung der vom Ehemann ausgehenden Risiken durch? Nach welchen Standards oder Instrumenten erfolgte die Bewertung und hat eine solche Risikobewertung den speziellen Kontext der häuslichen Gewalt ausreichend berücksichtigt? Und war der zum damaligen Zeitpunkt geltende Rechtsrahmen ausreichend, um die Beschwerdeführerin und ihre Kinder vor weiterer Gewalt durch den Ehemann zu schützen?

Prüfung.

Der EGMR prüfte anhand der von ihm zu den Gewährleistungspflichten des Art. 2 EMRK entwickelten Grundsätze zu einem Risikomanagement und einer Gefährdungseinschätzung (siehe im Einzelnen EGMR in Osman vs. the United Kingdom vom 28 Oktober 1998), ob die österreichischen Behörden und Gerichte wussten oder hätten wissen müssen, dass der Ehemann unmittelbar gefährlich gewesen war und eine Untersuchungshaft hätte verhängt werden müssen. Hervorgehoben wird auch im Hinblick auf die Verhinderung von häuslicher Gewalt die Verpflichtung des Staates, präventive Maßnahmen zum Schutz solcher Personen zu treffen, deren Leben durch kriminelle Handlungen anderer oder durch andere objektive Gefahren gefährdet sind (vgl. dazu auch McCann and Others vs. the United Kingdom, vom 27 September 1995).
Der Gerichtshof wiederholte und bekräftigte, dass die Behörden unverzüglich auf Vorwürfe häuslicher Gewalt reagieren müssen und bei Behandlung solcher Fälle besondere Sorgfalt erforderlich sei. Die Behörden hätten festzustellen, ob eine reale und unmittelbare Lebensgefahr auf Grund der bekannten Fakten unter Berücksichtigung der Wiederholung sukzessiver Gewaltepisoden in der Familie für potenzielle Opfer bestehe. Zu diesem Zweck sind sie verpflichtet, in ihrer Prognoseentscheidung eine eigenständige, proaktive und umfassende Risikobewertung vorzunehmen und dabei die Besonderheiten häuslicher Gewalt zu berücksichtigen. Die Verwendung standardisierter Checklisten mit Hinweisen auf spezifische Risikofaktoren könnten zur Vollständigkeit einer solchen Risikobewertung der Behörden ebenso beitragen wie gut ausgebildete und speziell geschulte Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Bestehe reale und unmittelbare Lebensgefahr, so sei es die Pflicht der Behörden, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, die angemessen und verhältnismäßig seien.

Dokumentation.

Der Gerichtshof befand, dass einige grundlegende Dokumentationen auch des Risikomanagements (die genauere Ausgestaltung obliegt den Mitgliedstaaten) bei der Durchführung der Risikobewertung von Bedeutung sind, um den Informationsaustausch zwischen den Behörden, insbesondere Justiz oder Kinder- und Jugendhilfe, sicherzustellen und zu optimieren sowie den gefährdeten Personen Unterstützung bieten zu können. Insgesamt zog der EGMR im konkreten Fall in Betracht, dass auch die Beschwerdeführerin nicht von der Gefahr der Ermordung ihres Sohnes ausgegangen war und nicht alle gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten des Gewaltschutzes, konkret nach der EO, ausgeschöpft hatte. Die Polizei erließ unverzüglich ein Betretungsverbot, nahm dem Vater die Wohnungsschlüssel ab und kontaktierte die Staatsanwaltschaft, die ein Strafverfahren einleitete. Den österreichischen Polizeibehörden und Gerichten lagen vor dem Tod des Sohnes der Beschwerdeführerin keinerlei Informationen oder Hinweise vor, aus denen sie schließen hätten können, dass für das Leben der Kinder der Beschwerdeführerin eine echte und unmittelbare Gefahr bestand. In diesem Fall ist – bei aller Tragik des Ereignisses – ersichtlich, dass die Polizei bei Kenntnis von Gefährdungen im Kontext von häuslicher Gewalt mit der Anordnung des Betretungsverbotes als präventive Sofortmaßnahme rasch eingegriffen hat, weil im Sinne von § 38a SPG Tatsachen die Annahme rechtfertigten, es stehe eine strafbare Handlung gegen Leben, Gesundheit oder Freiheit bevor.

Im Verfahren

Im Verfahren vor der Großen Kammer wurde auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin eingegangen, dass erst nach dem Mord eine gesetzliche Möglichkeit geschaffen worden sei, ein Betretungsverbot auch hinsichtlich Schulen und Kindergärten zu erlassen. Allerdings hätten zum damals relevanten Zeitpunkt 2012 nicht nur gemäß § 38a SPG ein Betretungsverbot für die gemeinsame Wohnung (samt Eingangsbereich und Parkplatz vor dem Hauseingang) und die Wohnung der Eltern der Beschwerdeführerin (samt Vorplatz und Gehsteig) ausgesprochen werden können, sondern die Beschwerdeführerin hätte auch Anträge nach §§ 382b und 382e EO für den Bereich der Schule der Kinder stellen können, unterließ dies jedoch. Die Rüge der Beschwerdeführerin ging daher ins Leere. Zudem führt der EGMR schon im Vorurteil aus, dass die Verbesserung eines rechtlichen Rahmens nach einem Verbrechen nicht als Anerkennung eines vorherigen Mangels verstanden werden könne.

Kein Unterlassen, keine Untätigkeit.

Es ist wichtig hervorzuheben, dass der Gerichtshof keine Unterlassungen oder Untätigkeit seitens der österreichischen Behörden attestierte. Die österreichischen Behörden hätten sofort gehandelt, die konkreten Umstände gebührend berücksichtigt, mit der erforderlichen besonderen Sorgfalt auf die Vorwürfe häuslicher Gewalt reagiert und den spezifischen Kontext häuslicher Gewalt gebührend berücksichtigt. Die dokumentierte Risikobewertung sei selbstständig und proaktiv durchgeführt und auch der Staatsanwaltschaft kommuniziert worden. Insbesondere wurde die Vorgangsweise der Einvernahmen der Polizei durch Beamtinnen und Beamte mit einschlägiger Ausbildung und Erfahrung als auch die Abfragen betrachtet und als ausreichend im Hinblick auf das angewandte Risk-Assessment und die zum damaligen Zeitpunkt bekannten Risikofaktoren angesehen.
Zudem sei vor dem Hintergrund der seinerzeit verfügbaren Informationen im konkreten Fall eine Untersuchungshaft nicht geboten gewesen – nichts habe darauf hingewiesen, dass die Kinder gefährdet gewesen seien. Unter Berücksichtigung der Rechte von Verdächtigen im Sinn des Art. 5 EMRK sei den österreichischen Gerichten nicht vorzuwerfen, dass sie keine U-Haft verhängt hätten. Die Verhängung von U-Haft dürfe gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. C EMRK nie als rein präventive Maßnahme erfolgen.

Zusammenfassung und Ausblick.

Die Prävention von häuslicher Gewalt ist ein langjähriges Anliegen Österreichs. Im Sicherheitspolizeirecht wurde mit der Verhängung von Betretungsverboten ein bedeutendes und häufig angewendetes Mittel geschaffen, um Gefahrensituationen insbesondere für Frauen, aber auch für Kinder, rasch wirksam begegnen zu können. Verschiedene Novellierungen in den vergangenen Jahren haben dieses Schutzinstrument verfeinert und ausgebaut, zuletzt im Jahr 2019 durch die Schaffung des mit dem Betretungsverbot verbundenen Annäherungsverbotes im Umkreis von 100 Metern oder die Einführung einer Gewaltpräventionsberatung für Gefährder durch Beratungsstellen für Gewaltprävention sowie aktuell durch die Novelle BGBl. I Nr. 124/2021.
Das Bundesministerium für Inneres wird das vorliegende Urteil weiter analysieren und insbesondere in den Bereichen einer umfassenden Gefährdungsbeurteilung und der standardisierten Risikobewertung die auch vom EGMR bestätigten hohen Standards eine weitere Optimierung im Hinblick auf die sich im Kontext häuslicher Gewalt ergebenden positiven Verpflichtungen des Staates anstreben.

Peter Andre


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2021

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