Norwegen

Norwegische Polizisten im Einsatztraining: Nach dem Terroranschlag 2011 wurden die Spezialeinheiten verstärkt.
Norwegische Polizisten im Einsatztraining: Nach dem
Terroranschlag 2011 wurden die Spezialeinheiten verstärkt.
© Gregor Wenda

Erinnerung und Aufarbeitung

Vor zehn Jahren starben bei einem Terroranschlag in Norwegen 77 Menschen. Ein Gedenkzentrum und Museum in Oslo erinnert an die Ereignisse des 22. Juli 2011 und dient als Ort der Wissensvermittlung.

Am 22. Juli 2011 explodierte in Oslo um 15.25 Uhr eine selbstgebaute Bombe in einem abgestellten VW-Lieferwagen. Die Kraft des fast eine Tonne schweren Sprengsatzes tötete acht Menschen, mehr als 200 wurden verletzt. Das im Regierungsviertel gelegene Hochhaus, in dem sich der Sitz des Premierministers und Amtsräume des Justizministeriums befanden, und die unmittelbar benachbarten Gebäude boten ein Bild der Verwüstung. Dass nicht mehr Menschen zu Schaden kamen, lag daran, dass ein Teil der Druckwelle in einen unter dem Komplex liegenden Tunnel abgeleitet wurde. Zudem war ein Großteil der in den Büros Beschäftigten an diesem Sommertag bereits außer Dienst. Der Urheber des Anschlags war der rechtsextreme Norweger Anders Behring Breivik, ein 32-jähriger Einzelgänger, der das Fahrzeug dort abgestellt hatte. Da der Täter sein ursprüngliches Ziel – den Einsturz des Regierungshochhauses – nicht erreicht hatte, entschied er sich, eine weitere Aktion durchzuführen: Er nützte die allgemeine Verwirrung und den Ausnahmezustand unmittelbar nach dem Attentat, um mit einem vorbereiten Fluchtfahrzeug zur Insel Utøya zu fahren, die etwa eine Stunde von Oslo entfernt liegt und auf der gerade ein Sommerlager der Sozialistischen Jugend abgehalten wurde.
Breiviks Zielperson war die frühere Premierministerin Gro Harlem Brundtland, die dort einen Vortrag halten sollte. Sie hatte die Insel allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits wieder verlassen. Getarnt als Polizist schaffte es der Attentäter, die Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und auf einer Fähre nach Utøya überzusetzen. Von den 564 Personen auf der Insel waren 530 Jugendliche und junge Erwachsene. Schwer bewaffnet begann Breivik schon kurz nach dem Anlegen auf Utøya um 17.21 Uhr wahllos um sich zu schießen. Bis Spezialeinsatzkräfte auf der Insel eintrafen und den Täter um18.34 Uhr festnahmen, hatte er dort 69 Menschen getötet und 33 weitere verletzt. Darüber hinaus wurden viele traumatisiert.
Breivik wurde im August 2012 wegen 77-fachen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 21 Jahren verurteilt. An diese nach norwegischem Strafrecht höchstmögliche Haftstrafe schließt sich ein Maßnahmenvollzug an.

Zehn Jahre

Zehn Jahre nach der schwersten Gewalttat in Norwegen seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Datenkürzel „22/7“ für den 22. Juli in das kollektive Gedächtnis des nordeuropäischen Landes eingebrannt. Dass diese Bluttaten nicht wie in vielen anderen Fällen in Europa islamistischen Sympathisanten mit ausländischem Hintergrund zuzurechnen waren, sondern einem Mitbürger, der zuvor unauffällig und unbeachtet seine Vorbereitungen treffen konnte, ließ den gesellschaftlichen Grundkonsens in dem bis dahin als friedlich und sicher geltenden skandinavischen Staat ins Wanken geraten. In politischen Gremien und Medien kam es zum Teil zu sehr kontroversiell geführten Diskussionen. Die Technisch-Naturwissenschaftliche Universität Norwegens befasste sich bald nach den Attentaten in einem Forschungsprojekt mit vielseitigen Fragestellungen rund um die Aufarbeitung der Anschläge.
Das Gebiet rund um den zerstörten Amtssitz des Premierministers in Oslo entwickelte sich in der Folge zu einem stark frequentierten Besuchspunkt. Um einen speziellen Ort der Erinnerung, Information und Begegnung zu schaffen, einigten sich die Regierung unter Federführung des norwegischen Ministeriums für Lokalverwaltung und Modernisierung und die Technisch-Naturwissenschaftliche Universität darauf, ein Gedenkzentrum einzurichten, in dem die Ergebnisse der bisherigen Forschungsarbeiten dokumentiert werden sollten. Als vorläufiger Ort wurde 2015 ein ebenerdiges Gebäude im Komplex des schwer beschädigten Regierungsgebäudes ausgewählt. Das „22.-Juli-Zentrum“ (22. juli-senteret) versteht sich als „Ort des Lernens“ und der Vermittlung von Wissen. Neben einer akribischen Dokumentation der Abläufe, unterstützt durch Fotos, Videoaufnahmen und Artefakte, werden Schicksale hervorgehoben. Betroffene kommen in Filmsequenzen zu Wort und sollen mit ihren Schilderungen die Erinnerung lebendig halten. Das für die Gestaltung des Zentrums verantwortliche Team ist mit den Familien der Opfer im laufenden Kontakt.

Gedenkzentrum: Reste des explodierten Autos im Osloer Regierungsviertel
Gedenkzentrum: Reste des explodierten
Autos im Osloer Regierungsviertel
© Gregor Wenda

Museum.

Für die Verwaltung des Zentrums ist die norwegische Sicherheits- und Serviceorganisation verantwortlich, der unter anderem die Bewachung aller Ministerien in Oslo zukommt. Nachdem inzwischen die Arbeiten an der Umgestaltung des Osloer Regierungsviertels intensiv laufen, wurde das Zentrum 2020 in ein Ausweichquartier an der Teatergata 10 verlegt. Im musealen Teil des Zentrums finden sich einige besonders bemerkenswerte Exponate: Original-Asservate aus dem Gerichtsverfahren gegen Anders Behring Breivik inklusive seines gefälschten Polizeiausweises und der Polizeiabzeichen-Imitate, das Logbuch der 17-Uhr-Fähre nach Utøya, in dem in der Kommentarspalte „1 Polizist“ vermerkt wurde, Reste des Fahrgestells des explodierten VW-Lieferwagens oder das zerstörte Ziffernblatt der Turmuhr eines Gebäudes am Rande des Regierungsviertels.

In einem Schaukasten sind Handys, Digitalkameras und iPods zu sehen, die bei der Tatortarbeit auf Utøya eingesammelt wurden. Solche Gegenstände mussten die Jugendlichen auf ihrer Flucht vor dem Gewehrfeuer von Anders Breivik zurücklassen.

Ein aktueller Schwerpunkt

Ein aktueller Schwerpunkt des Zentrums liegt auf der Darstellung der öffentlichen Debatte über den 22. Juli. Die Anschläge, ihre Hintergründe und die daraus abgeleiteten Konsequenzen haben trotz der gemeinschaftlichen Erschütterung und Trauer in der Bevölkerung einen unterschiedlichen Umgang mit den Ereignissen hervorgebracht: Während die einen einmahnen, die Erinnerung stets präsent zu halten, plädieren andere für einen stärkeren Blick „nach vorne“. Als Ort der Wissensvermittlung wird in diesem Zentrum versucht, die Debatte abzubilden und verschiedene Blickwinkel zu bieten. Das Zentrum verfügt über eine Bibliothek zur Thematik von Terroranschlägen in Oslo und an anderen Orten der Welt. Für Schulklassen, Familiengruppen und Forschende gibt es Führungen und Workshops. Die Informationsarbeit des Zentrums läuft insbesondere über eine Homepage, eine Facebook-Seite und eine Instagram-Präsenz. Die Inhalte werden laufend aktualisiert und großteils auch auf Englisch zur Verfügung gestellt.

Gedenkzentrum: zurückgelassene Handys, Kameras und iPods auf Utøya
Gedenkzentrum: zurückgelassene Handys, Kameras und
iPods auf Utøya © Gregor Wenda

Lehren für die Polizei.

Ein eigener Bereich der Zentrums-Homepage widmet sich den Lehren, die das Polizei- und Sicherheitswesen in Norwegen aus den Anschlägen am 22. Juli 2011 gezogen hat: Die Zahl der Polizeibediensteten wurde erheblich aufgestockt, das Schusswaffentraining verstärkt. Der polizeiliche Nachrichtendienst PST wurde ausgebaut, 2017 wurden ein nationales Einsatzzentrum des PST und ein Cyber-Koordinationszentrum eröffnet. Seit 2016 gibt es ein nationales polizeiliches Lagezentrum zur Steuerung von Krisenfällen. Für den Polizeibereich wurden ein nationales Notrufsystem und ein digitales Funknetz aufgebaut, das inzwischen einen Großteil des Staatsgebietes abdeckt. Die Kooperation zwischen der Polizei und dem Militär bei Sonderlagen wurde neu definiert und durch spezielle Instruktionen effizienter gestaltet. In regelmäßigen Großübungen trainieren Polizei, Feuerwehr und Rettungsorganisationen die Zusammenarbeit bei Unglücksfällen oder Anschlägen. Die Polizeisondereinheit „Delta“ erhielt um 60 Prozent mehr Personal sowie neue Ausrüstung und Fahrzeuge. Moderne Polizeihubschrauber des Typs Leonardo AW169 wurden angeschafft. Für die polizeilichen Spezialeinheiten wurde ein gemeinsames Kommandozentrum eingerichtet, das dem Hauptquartier der österreichischen Direktion für Spezialeinheiten ähnlich ist.
Bis 2025 soll das Regierungsviertel im Osloer Zentrum, rundum neugestaltet, wiedereröffnet werden. Auch das Gedenkzentrum für den 22. Juli wird dann eine dauerhafte Unterkunft erhalten. 2018 wurde vor dem Regierungshochhaus eine Gedenkstätte enthüllt, mit den Namen und Altersangaben aller 77 Opfer. Sobald das Regierungsviertel sein neues Aussehen erhalten hat, soll an ihre Stelle ein permanentes Mahnmal treten.

Gregor Wenda


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2021

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