Gewaltprävention

Unterstützung bei Entscheidungen

Gewalt in den eigenen vier Wänden zählt zu den sensibelsten Bereichen der Polizeiarbeit.
Ein spezielles Supportteam unterstützt Polizistinnen und Polizisten in Wien beim Einschreiten.

GiP-Support-Team: Unterstützung für Polizisten bei Amtshandlungen mit Gefährdungspotenzial im privaten Bereich.
GiP-Support-Team: Unterstützung für Polizisten
bei Amtshandlungen mit Gefährdungspotenzial
im privaten Bereich. © Bernhard Elbe

Nachdem ein 40-jähriger Mann in den frühen Morgenstunden des 6. Septembers 2021 in der gemeinsamen Wohnung in Villach auf seine 36 Jahre alte Ehefrau eingestochen hatte, ermittelte die Staatsanwaltschaft Klagenfurt wegen versuchten Mordes. Auslöser der Bluttat dürfte ein Streit zwischen dem afghanischen Ehepaar gewesen sein. Dabei hatte der Mann ein Stanley-Messer genommen und zugestochen. Der neunjährige Sohn des Paares war zu den Nachbarn gelaufen. Diese verständigten die Rettung. Während die 36-Jährige schwer verletzt wurde, hatte der Mann nur oberflächliche Schnittverletzungen erlitten: „Diese Verletzungen dürfte er sich mit großer Wahrscheinlichkeit nach der Tat selbst zugefügt haben. Sie sind aber nur leicht, jedenfalls haben sie keine Auswirkungen auf die Haftfähigkeit des Mannes“, berichtete Markus Kitz, Sprecher der Staatsanwaltschaft Klagenfurt.
Für die 13-jährige Leonie, die in Wien-Donaustadt von ihren Peinigern unter Drogen gesetzt und dann vergewaltigt worden war, gab es Ende Juni 2021 keine Hilfe mehr. Der Tod der Schülerin aus Tulln war der 15. Femizid in Österreich 2021 und die Fortsetzung einer Serie von Gewalt gegen Frauen. Bis Mitte September 2021 ist die Zahl auf 21 Todesfälle angewachsen. Der jüngste Fall, bei dem zwei Frauen im Alter von 35 und 37 Jahren erstochen wurden, ereignete sich am 14. September 2021 in einer Wohnung in Wien-Favoriten. Der Täter, ein 28-jähriger Somalier, hatte ein Naheverhältnis zu beiden Opfern – es handelte sich um die aktuelle Lebensgefährtin und die Ex-Freundin des Mannes.

Anstieg an Fällen.

Gewalt in der Privatsphäre: Ziel des polizeilichen Einschreitens ist es, Gewalt beim ersten Hinweis zu verhindern.
Gewalt in der Privatsphäre: Ziel des polizeilichen
Einschreitens ist es, Gewalt beim ersten Hinweis
zu verhindern. © Bernhard Elbe

2020 wurden laut Kriminalstatistik 31 Frauen – zumeist von ihren Partnern, Ex-Partnern oder Familienmitgliedern – ermordet. 2018 erreichte die Zahl der Morde einen Höchststand von 41. 2014 wurden im Vergleich dazu 19 Frauen umgebracht. Es kam in diesem Zeitraum zu mehr als einer Verdoppelung an Frauenmorden in Österreich. Monatlich werden mittlerweile rund drei Frauen getötet. Beim überwiegenden Teil der Straftaten bestand ein Beziehungs- oder familiäres Verhältnis zwischen Täter und Opfer.

Tatort Eigenheim.

Gewalt findet häufig dort statt, wo sich Menschen sicher und geborgen fühlen – in der eigenen Wohnung oder dem eigenen Haus. Opfer von Gewalt in der Privatsphäre sind in den meisten Fällen Frauen, Kinder und ältere Menschen. Gewalt wird nicht nur körperlich, sondern auch psychisch ausgeübt. Gewalt in der Privatsphäre zu erkennen, erfordert ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl, Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen.
„Der stetige Anstieg der Zahl an Gewalttaten in der Privatsphäre und generell an Frauen erfordert ein Umdenken beim polizeilichen Einschreiten – gerade wenn es darum geht, heranwachsende Konflikte frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig Maßnahmen zum Schutz späterer Opfer zu setzen“, sagt Chefinspektor Wolfgang Schlegl-Tiefenbacher vom Referat für Strategie und Entwicklung in der Landespolizeidirektion (LPD) Wien. „Wir müssen dort ansetzen, wo es noch möglich ist, Gewalt zu verhindern – bereits bei der ersten Anzeige, beim ersten Notruf oder dem ersten Hinweis durch Nachbarn.“

Früherkennung.

Wolfgang Schlegl- Tiefenbacher: „Hochrisikofälle früh erkennen.“
Wolfgang Schlegl-Tiefenbacher:
„Hochrisikofälle früh erkennen.“
© Bernhard Elbe

Aufgrund der Zunahme von Gewalttaten an Frauen und Mädchen haben Expertinnen und Experten der LPD Wien ein Maßnahmenpaket geschnürt. Hochrisikofälle sollen bereits in einem frühen Stadium identifiziert werden. Bereits die ersteinschreitenden Polizistinnen und Polizisten sollen durch eine strukturierte Vorgehensweise gefährdete Personen besser vor künftigen gewaltsamen Übergriffen schützen können.
Oftmals handelt es sich um schwelende Konflikte zwischen zwei Menschen, die bei einem erstmaligen Einschreiten schwer zu erkennen und zu prognostizieren sind.

Mehr Treffsicherheit bei schwierigen Entscheidungen.

Ein GiP-Supportteam – GiP ist die Abkürzung für Gewalt in der Privatsphäre – unterstützt seit Anfang Juli 2021 die ersteinschreitenden Polizistinnen und Polizisten in Wien bei Amtshandlungen mit Gefährdungs- und Gewaltpotenzial im privaten Bereich. Mit Hilfe des Support-Teams sollen die im Einsatz stehenden Beamten eine aussagekräftige Gefahrenprognose treffen können, auf die sich weitere Maßnahmen und Verfügungen stützen. Am ersten Juli 2021 startete der Probebetrieb als Journaldienst, der rund um die Uhr und täglich erreichbar ist.
Im GiP-Support arbeiten Bedienstete, die bereits Berufserfahrung im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt nachweisen können. Beispielsweise Referenten der Kriminalreferate in den Stadtpolizeikommanden, Kommandanten oder stellvertretende Kommandanten einer Polizeiinspektion sowie dienstführende Polizistinnen und Polizisten, PI-Ermittler oder Präventions- und Opferschutzbeamte.

Der GiP-Support

Der GiP-Support wurde in der Polizeiinspektion Simmeringer Hauptstraße im ersten Stock untergebracht. Künftig soll der GiP-Support in Wien dezentral geführt werden. Das bedeutet, die Assistenzbereiche der Kriminalreferate der SPK werden mit ihren Opferschutzpräventionsbeamten/-innen bis zu zweimal im Monat Support aus ihrem Bezirk für ganz Wien leisten. Dies wird auf Basis jener Erkenntnisse erfolgen, die aus dem Projektbetrieb heraus erwachsen sind. Dazu wird es zuvor noch eine eintägige Einschulung der Zielgruppe, wo es noch erforderlich ist, geben, sowie eine Verwendung im zentralen GiP-Support als praktische Schulung durch GiP-Supporter.

Schulungen.

Weiters soll es spezielle Schulungen für die ersteinschreitenden Polizistinnen und Polizisten geben. „Ich denke dabei an Grundausbildungslehrgänge, berufsbegleitende Fortbildungen oder E-Learning-Module“, sagt Schlegl-Tiefenbacher. „Die Schulungen müssen dabei nicht zwingend für alle gleich ablaufen, sondern können an die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Beamtinnen und Beamten angepasst werden. Die Ausbildungsoffensive in den Stadtpolizeikommanden ist bereits mit Herbst 2021 gestartet.“ Weiters sind Lehrveranstaltungen für Zielgruppen – über das SIAK Bildungsangebot hinaus – vorgesehen. Die Opferschutzarbeit steht dabei im Vordergrund.

Wer schlägt der geht.

Das „Gewaltschutzgesetz“ hat in den 1990er-Jahren mit dem Leitsatz „Wer schlägt, der geht“ ein klares Zeichen gesetzt – häusliche Gewalt ist keine Privatangelegenheit. Für Betroffene wurde ein umfangreiches Unterstützungsangebot eingerichtet und sukzessive erweitert. Häufig werden Polizistinnen und Polizisten zu Streitigkeiten oder gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Privatsphäre gerufen. Die Beamten haben dann die schwierige Aufgabe, an Ort und Stelle eine Gefahrenprognose zu erstellen – als Entscheidungsgrundlage stehen häufig nur die unterschiedlichen Aussagen von zwei Kontrahenten zur Verfügung. Ob es sich lediglich um einen Streit handelt, eine von beiden Personen bereits bedroht oder eingeschüchtert wurde oder vielleicht auch schon Gewalt erfahren hat, muss von den ersteinschreitenden Polizistinnen und Polizisten in kürzester Zeit und mit wenigen Hintergrundinformationen beurteilt werden.

Wissenschaftliches Werkzeug.

„Zur Risikoeinschätzung bei häuslicher Gewalt wurde in Kanada ein eigenes Tool zur polizeilichen Verwendung entwickelt und für den deutschsprachigen Raum validiert. Es handelt sich dabei um ODARA – Ontario Domestic Assault Risk Assessment. Die Polizei in der Schweiz und teilweise auch in Deutschland nützt dieses Tool.

Der Anwendungsbereich

Polizistinnen und Polizisten sind bei Verdacht auf Gewalt in der Privatsphäre verpflichtet, mit dem GiP-Support Kontakt aufzunehmen.
Polizistinnen und Polizisten sind bei Verdacht auf Gewalt in der Privatsphäre
verpflichtet, mit dem GiP-Support Kontakt aufzunehmen.
© Bernhard Pucher/LPD Wien

Der Anwendungsbereich erstreckt sich über physische Gewalt bis hin zu einer Todesdrohung, etwa mit einer Waffe, gegenüber dem Lebens- oder Ehepartner oder deren Kinder“, erläutert Mag. Nina Lepuschitz von der Sicherheits- und Verwaltungspolizeilichen Abteilung in der LPD Wien. „ODARA umfasst 13 Items mit Informationen zu wissenschaftlich anerkannten Risikomarkern für eine erneute häusliche Gewalttätigkeit und schätzt dadurch objektiv und transparent das Risiko eines erneuten Gewaltszenarios ein. Es handelt sich darüber hinaus um ein sehr ausführlich validiertes Risk-Assessment Tool, das über eine hohe Trennschärfe für die Einschätzung des Rückfallrisikos verfügt.“

Risikobewertung

Abgeleitet aus der Gefährdungseinschätzung kommt es über die Risikobewertung zur Zuordnung eines „Summen-Scores“ in drei Kategorien – niedrige Wahrscheinlichkeit, erhöhte Wahrscheinlichkeit und hohes Risiko. In Fällen, in denen keine Anwendung von ODARA möglich ist, erfolgt eine alternative Gefährdungseinschätzung in Anlehnung an die drei Kategorien.

Auf den Polizeieinsatz zugeschnitten.

ODARA beurteilt das Risiko erneuter häuslicher Gewalt in 7 Risikokategorien und verfügt über eine hohe Trennschärfe für die Einschätzung des Rückfallrisikos. In Österreich wird es bereits vom Justizministerium im Strafvollzug verwendet. Für die Bedienung dieses Tools benötigt der Anwender kein Expertenwissen, es ist lediglich eine Einschulung erforderlich.

Gewohnte Arbeitsabläufe bleiben bestehen.

Durch den GiP-Support kommt es zu keiner Änderung der Ablauforganisation, es wird daher in die bestehende Weisungskette nicht eingegriffen. Der Support kann keine Aufträge erteilen und übernimmt auch keine Amtshandlungen. Er hat beratende und unterstützende Funktion und ist funktionell mit einer Assistenzdienststelle zu vergleichen. Der GiP-Support wird nur innerhalb der LPD Wien tätig und hat keine Schnittstellenfunktion zur Interventionsstelle Wien.

Verständigung.

Die einschreitenden Polizeibeamten müssen den Support in folgenden Fällen verständigen: bei Ausspruch eines Betretungs- oder Annäherungsverbotes – die Voraussetzungen für eines dieser Verbote zwar gegeben sind, die Aussprache jedoch noch nicht erfolgt ist – oder wenn jemand ein Betretungs- oder Annäherungsverbot, eine einstweilige Verfügung, eine strafgerichtliche Weisung oder sonstige Auflagen missachtet.
„Die Polizistinnen und Polizisten, die mit derart sensiblen Amtshandlungen konfrontiert werden, sollen durch den GiP-Support bestmöglich unterstützt werden. Die erfahrenen Beamten des Journaldienstes stellen ihr Wissen und ihre Erfahrung zur Verfügung, geben Hinweise, hinterfragen den zugrundeliegenden Sachverhalt und machen die Ersteinschreiter auf eine eventuell bevorstehende Gefährdung aufmerksam“, fasst Schlegl-Tiefenbacher die Aufgaben des GiP-Supportes zusammen.

Gernot Burkert


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 11-12/2021

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