New York
Unvergessene Opfer
Sucharbeiten in den Trümmern des World Trade Centers kurz
nach dem Terroranschlag in New York.
© Beth A. Keiser/AP/picturedesc.com
Auch 20 Jahre nach dem 11. September 2001 ist die New Yorker Gerichtsmedizin mit der forensischen Aufarbeitung der Terroranschläge befasst. Durch neue wissenschaftliche Methoden gelang es jüngst, die Überreste von zwei weiteren Opfern zu identifizieren.
Kurz vor dem 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 („9/11“) gab die leitende Gerichtsmedizinerin der Stadt New York Dr. Barbara A. Sampson bekannt, dass es ihrer Behörde gelungen sei, zwei weitere Opfer von 9/11 zu identifizieren: „Vor zwanzig Jahren haben wir den Familien der World-Trade-Center-Opfer versprochen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um ihre Lieben zu identifizieren. Mit diesen beiden neuen Treffern setzen wir diese besondere Verpflichtung fort“, betonte Sampson.
Die forensischen Arbeiten rund um die Anschläge des „9/11“ sind bis heute nicht abgeschlossen, lange galt „Ground Zero“ – der Ort der Attentate im Süden Manhattans – als Amerikas größter Tatort. Durch den Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Center, in die zwei entführte Verkehrsmaschinen gesteuert worden waren, starben am 11. September 2001 2.753 Menschen. Bis zum Einsturz der Wolkenkratzer gelang es noch, zwischen 13.000 bis 15.000 Menschen aus dem unmittelbaren Areal des Welthandelszentrums zu evakuieren. Schätzungsweise 200 Personen stürzten sich aus den unzugänglichen obersten Stockwerken in den Tod. Aus dem Schutt der Gebäude konnten nur 20 Menschen lebend geborgen werden, darunter zwei Polizisten. Die heldenhafte Rettungsaktion wurde 2006 im Kinofilm „World Trade Center“ von U.S.-Regisseur Oliver Stone geschildert.
Ungeklärte Identitäten.
Zerstörtes Feuerwehrfahrzeug: Aus den Trümmern geborgen.
© Gregor Wenda
Bei den nunmehr identifizierten Toten handelte es sich um das 1.646. und das 1.647. erfasste Opfer. Bei rund 40 Prozent der Verstorbenen ist die Identität weiterhin nicht geklärt. „Egal wie viel Zeit vergeht, wir werden nie vergessen und alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um jene, die verstorben sind, wieder mit ihren Familien zusammenzuführen“, sagte Chief Medical Examiner Sampson. Bei Opfer Nummer 1.646 handelte es sich um Dorothy Morgan, eine 47-jährige Angestellte, die im 94. Stock des Nordturms gearbeitet hatte. 2001 waren Fragmente von Dorothy Morgan aus den Trümmern geborgen worden, doch erst neue Untersuchungsverfahren ermöglichten einen positiven Abgleich der minimalen genetischen Spuren mit einer DNA-Probe, die Dorothy Morgans Tochter vor fast 20 Jahren zur Verfügung gestellt hatte. Die zweite erfolgreiche Identifizierung betraf einen Mann, dessen Name auf Wunsch der Hinterbliebenen nicht veröffentlicht wurde. Hier waren drei DNA-Proben aus 2001, 2002 und 2006 zusammengeführt worden, um letztlich einen erfolgreichen Treffer zu erzielen.
Mammutprojekt.
Rest der Antenne des eingestürzten World Trade Centers.
© Gregor Wenda
Die Identifizierung der World-Trade-Center-Opfer gestaltete sich von Anfang an als Mammutprojekt. Schon bei den ersten Suchaktionen am „Ground Zero“ zeigten sich Helfer verwundert, wie wenige Leichen zu finden waren. Oftmals konnten nur mehr einzelne Körperteile geborgen werden. Durch die Explosionen der in die Wolkenkratzer fliegenden Maschinen, die nachfolgenden Brände und die immensen Druckwellen beim Zusammenbruch der 400-Meter-Türme waren viele Opfer buchstäblich pulverisiert worden. 22.000 Knochen- und Gewebeteile wurden im Laufe der Zeit sichergestellt, teils verkohlt oder verflüssigt, oft in winzigen Fragmenten, die weit verstreut worden waren und zuvor hoher Hitzeentwicklung, Bakterien, Schimmelpilzen, Treibstoff, Öl oder Löschwasser ausgesetzt waren. Erst 2006 wurden auf dem Hochhaus der Deutschen Bank weitere menschliche Überreste entdeckt – das Gebäude neben dem Südturm war so schwer beschädigt worden, dass es gesperrt und über mehrere Jahre abgetragen werden musste.
Fresh Kills Landfill.
Während noch nach Verschütteten gesucht wurde und die Feuerwehr überall Brandherde bekämpfte, galt es, „Ground Zero“ rasch von den Trümmern des Welthandelszentrums aus Stahl und Beton zu befreien. Die Schadstoffbelastung am Tatort war hoch. Für die Spurensicherung in den Überresten wurde eine eigene Task Force aus zahlreichen Behörden eingesetzt, die unter der Führung des New York Police Department und des Federal Bureau of Investigation stand. Da nirgends in Manhattan ausreichend Platz für das Durchsuchen der Trümmerberge gewesen wäre, wurde eine im März 2001 aufgelassene, 3.000 Hektar große Mülldeponie im Stadtteil Staten Island reaktiviert. Mit Unterstützung der New Yorker Abteilung für Abfallwirtschaft und Straßenreinigung kamen Kräne, Lastwägen und Frachtkähne für die Aushub- und Transportarbeiten zum Einsatz. Am 12. September 2001 um zwei Uhr früh traf die erste Fuhre auf der Deponie Fresh Kills Landfill ein. Die auf einer Insel gelegene Deponie war vom Wasser aus gut zugänglich, sodass mit Hilfe der Frachtkähne in kurzer Zeit Schutt und Metallteile über den Hudson River angeliefert werden konnten. Ein Kahn fasste 650 Tonnen Inhalt, etwa 17 Kähne pro Tag wurden an drei Piers in Manhattan beladen und steuerten dann Fresh Kills Landfill an, wo kleinere Trucks die Fuhren übernahmen. Die Einsatzkräfte suchten nach Opfern, aber auch nach persönlichen Gegenständen und nach Beweismitteln, etwa dem Flight Recorder, Handys, Pagern, Paketmesser, Ausweisen oder Kreditkarten. Rasch entstand am Deponiegelände eine Art Stadt in der Stadt: Zelte sollten vor Regen und Kälte schützen und Platz zum Ausruhen und Umkleiden bieten, Lagerhallen für Ausrüstung und Essen mussten errichtet werden. Etwa 100 Telefonleitungen wurden gelegt. Um das hochkontaminierte Material zu sichten, benötigten die eingesetzten Kräfte zwei bis drei Schutzanzüge pro Tag.
Suche nach Überresten.
Suche nach menschlichen Überresten:
Darstellung im Polizeimuseum (2003).
© Gregor Wenda
Das eintreffende Material, vermischt mit kleinsten menschlichen Überresten, wurde sorgfältig gereinigt und ausgesiebt. Die Untersuchung erfolgte in einem mehrstufigen Prozess. Über Fließbänder konnten die eingesetzten Ermittler die Geschwindigkeit bei der Überprüfung kleiner Teile bestimmen. Durch die fordernde Tätigkeit am Fließband erfolgte in der Regel alle 15 Minuten eine Ablöse. Alle aufgefundenen persönlichen Gegenstände wurden fotografiert und in einer Datenbank für Hinterbliebene katalogisiert, um sie den Familien zurückgeben zu können. Wann immer Leichenreste sichergestellt wurden, brachte man sie zuerst zur Erfassung in eine temporäre Außenstelle der Gerichtsmedizin auf dem Deponiegelände und anschließend zur Gerichtsmedizin nach Manhattan.
Während der elfmonatigen World Trade Center Recovery Operation wurden 1,8 Millionen Tonnen Material durchsucht und 75.000 persönliche Gegenstände von Toten und Überlebenden gefunden. Insgesamt 24.000 Menschen von 40 Behörden, der Armee, der Nationalgarde, zahlreichen Blaulicht- und Hilfsorganisationen und verschiedene private Firmen waren in die Arbeiten in Fresh Kills Landfill involviert. Viele halfen freiwillig, Unterstützung kam aus ganz Amerika.
Bis Ende Mai 2002 war es gelungen, 736 Opfer ohne genetische Fingerabdrücke zu identifizieren, etwa an Hand von Fingerabdrücken, Narben oder Zahnprofilen. Alle weiteren menschlichen Überreste wurden aufgrund von DNA-Testungen behandelt. 2005 stellte die New Yorker Gerichtsmedizin kurzfristig ihre Identifizierungsarbeiten ein, da die DNA-Technologie an ihre Grenzen gestoßen war. Doch noch im selben Jahr konnten die Untersuchungen aufgrund von verbesserten Methoden wieder aufgenommen werden.
Nach knapp 20 Jahren gilt die Identifikationsarbeit beim World Trade Center als das größte Rechtsmedizinprojekt der U.S.-Geschichte. Viele der sichergestellten Fragmente wurden inzwischen 10- bis 15-mal erfolglos untersucht – entweder, weil sie keinen geeigneten Vergleichsproben zugeordnet werden konnten oder sich das sichergestellte genetische Material nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft weiterhin in einem zu stark beschädigten Zustand befindet. In der 2011 errichteten World-Trade-Center-Gedenkstätte in Manhattan befindet sich ein Aufbewahrungsort für alle noch nicht identifizierten sterblichen Überreste, die, mit Barcodes versehen, archiviert sind. Der nicht öffentlich zugängliche Teil des World Trade Center Memorials steht unter der Aufsicht des Gerichtsmedizinischen Instituts von New York; er bietet Gedenkräume für Hinterbliebene und ist für forensische Erfordernisse ausgestattet.
DNA-Sequenzierung.
Erinnerungsabzeichen
an die Spurensuche
in Fresh Kills Landfill.
© Gregor Wenda
Moderne wissenschaftliche Methoden lassen hoffen, dass in naher Zukunft weitere Opfer identifiziert werden können. Das U.S.-Verteidigungsministerium setzt neuartige Verfahren zum Ablesen der Sequenzinformationen von DNA-Molekülen (Next Generation Sequenzing) ein, um Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Koreakrieg und dem Vietnamkrieg ein Gesicht zu geben. Das New Yorker Gerichtsmedizinische Institut plant, dieses Verfahren noch heuer für DNA-Untersuchungen bei World-Trade-Center-Opfern einzusetzen. Die Covid-19-Pandemie hatte die Zulassung der neuen Prozesse, an denen seit 2018 geforscht wurde, verzögert.
Späte Opfer.
Während 1.106 Personen, die am 11. September 2001 zu Tode kamen, noch nicht identifiziert sind, soll die Zahl jener Menschen, die aufgrund von Spätfolgen der Terroranschläge verstorben sind, bald die damalige Opferzahl überstiegen. Durch giftige Dämpfe am Ground Zero wurden unter anderem Krebserkrankungen ausgelöst. Mehr als 10.000 Personen werden laut des amerikanischen Center for Disease Control als geschädigt geführt, darunter viele Polizei- und Rettungskräfte. Beim World Trade Center Health Program, das auf Basis des bundesweiten Entschädigungsgesetz 9/11 Health and Compensation Act eingerichtet worden ist, sind mehr als 112.000 Antragsteller registriert. Der Entschädigungsfonds September 11 Victim Compensation Fund, der 2011 wiedereröffnet wurde, hat bislang 67.000 Anträge auf Entschädigung aufgrund gesundheitlicher Probleme erhalten. Die Leistungen sollen noch bis 2090 ausgeschüttet werden.
Gregor Wenda
Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 11-12/2021
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