Europäische Kommission

Aufklärung, Gedenken, Schutz

Die Strategie der Europäischen Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus stützt sich auf drei Säulen: Verhütung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus, Schutz und Förderung jüdischen Lebens in der EU und Aufklärung, Forschung und Gedenken an den Holocaust.

Bei „Anti-Corona“-Demonstrationen kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Etwa wenn von Teilnehmern der Kundgebungen gelbe Armbinden mit Davidstern getragen werden, in denen das Wort „Jude“ durch „ungeimpft“ ersetzt ist.
Bei „Anti-Corona“-Demonstrationen kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Etwa wenn von Teilnehmern der
Kundgebungen gelbe Armbinden mit Davidstern getragen werden, in denen das Wort „Jude“ durch „ungeimpft“ ersetzt ist.
© Boris Roessler/DPA /Picturedesk.com, Gerd Pachauer

Die Europäische Kommission legte am 5. Oktober 2021 die erste Europäische Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens vor. Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission‚ erklärte bei der Vorstellung der Strategie: „Heute verpflichten wir uns, jüdisches Leben in Europa in all seiner Vielfalt zu fördern. Wir wollen, dass im Herzen unserer Gemeinschaften wieder jüdisches Leben blüht. So sollte das auch sein. Europa kann nur florieren, wenn seine jüdischen Gemeinschaften sich sicher fühlen und florieren.“
Die EU-Strategie bildet gemeinsam mit den beiden Erklärungen des Rates der EU aus 2018 bzw. 2020 sowie der Resolution des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2017, die genauso wie die neue Strategie dem Thema Bekämpfung von Antisemitismus und Förderung jüdischen Lebens gewidmet sind, den generellen Rahmen für die EU-Politik in diesem Bereich.

Steigender Antisemitismus.

Wie aus den jüngsten Erhebungen der EU-Grundrechteagentur (FRA) ableitbar ist, bleibt der Antisemitismus ein ernstes, zunehmendes Problem in Europa. Insbesondere die im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie im Internet kursierenden Verschwörungserzählungen haben nicht selten einen antisemitischen Hintergrund, wie die „Adrenochrom-Theorie“, die Anleihen an die seit dem Mittelalter verbreitete „Ritualmordlegenden“ aufweist. Nach dieser Erzählung aus den USA herrsche eine böse, pädophile Elite, bestehend aus Politikern der US-Demokraten, den Medien, Banken und Persönlichkeiten jüdischen Glaubens im Verborgenen über das Land. Diese Elite würde Kinder entführen und ihnen Blut abnehmen, um daraus Verjüngungs-Elixiere mithilfe des daraus gewonnenen Stoffwechselprodukts Adrenochrom herzustellen.
Auch bei „Anti-Corona“-Demonstrationen kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Etwa wenn von Teilnehmern der Kundgebungen gelbe Armbinden mit Davidstern, in denen das Wort „Jude“ durch „ungeimpft“ ersetzt ist oder Plakate mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ getragen werden. Auch bei Kundgebungen in Österreich, wie etwa bei einer großen Anti-Corona-Demonstration am 20. November 2021 in Wien, kam es zu Holocaustverharmlosungen und zu Anzeigen nach dem Verbotsgesetz. Innenminister Karl Nehammer zeigte sich über die Verwendung gelber Sterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ empört: „Das ist nicht nur völlig geschmacklos, sondern verharmlost die Verbrechen der Nationalsozialisten und beleidigt die Millionen Opfer der NS-Diktatur und deren Angehörige.“

Juden in Europa.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in etwa 9,5 Millionen Jüdinnen und Juden in Europa. Sechs Millionen davon wurden systematisch von den Nazis im Holocaust ermordet; die jüdische Bevölkerung in der EU wird heute auf bis zu 1,5 Millionen Menschen geschätzt (COM(2021) 615 final, 2-3). Vor 1938 lebten in Österreich ca. 200.000 Jüdinnen und Juden – heute sind es ca. 10.000 bis 15.000.
In Österreich nahmen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Wien (der mit Abstand größten Gemeinde in Österreich) in den letzten Jahren etwas zu. In Wien gibt es ein vielfältiges soziales und kulturelles Angebot, das von der jüdischen Gemeinde – auch der Gesamtbevölkerung – angeboten wird.
Außerdem wurde 2021 das Gesetz zur Absicherung des österreichisch-jüdischen Kulturerbes (ÖJKG) kundgemacht. Mit dem ÖJKG werden die Leistungen des Bundes an die Israelitische Religionsgesellschaft auf vier Millionen Euro pro Jahr verdreifacht. Damit soll die Sicherheit der jüdischen Gemeinden unterstützt und wichtige Projekte zur Förderung jüdischen Lebens ermöglicht werden. In anderen Ländern Europas ist die Lage weniger rosig, weshalb in den letzten Jahren eine Tendenz zur Auswanderung wahrgenommen wird. Dass Antisemitismus auch in Europa zu gewaltsamen und tödlichen Vorfällen führen kann, verdeutlichen die Anschläge an der Schule „Ozar Hatorah“ in Toulouse 2012, im jüdischen Museum in Brüssel 2014, im „HyperCasher“ in Paris 2015 und auf die Synagoge in Halle 2019.

Vorschläge der Kommission.

Die neue EU-Strategie ist das Bekenntnis der Union zu einer Zukunft für jüdisches Leben in Europa. Sie stützt sich auf drei Säulen: 1) Verhütung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus, 2) Schutz und Förderung jüdischen Lebens in der EU und 3) Aufklärung, Forschung und Gedenken an den Holocaust. Ergänzt werden diese Maßnahmen durch die internationalen Bemühungen der EU zur weltweiten Bekämpfung von Antisemitismus.

Vorbeugung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus.

Die Europäische Kommission wird Gelder aus dem EU-Budget für die Bekämpfung von Antisemitismus verwenden und die Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung und Umsetzung nationaler Strategien unterstützen. 2019 wurde eine Arbeitsgruppe in der Europäischen Kommission eingerichtet. Österreich legte als eines der ersten Länder Anfang 2021 seine nationale Strategie vor. Um dem steigenden Antisemitismus im Internet entgegenzuwirken, wird die Kommission den Aufbau eines europaweiten Netzes vertrauenswürdiger Hinweisgeber und jüdischer Organisationen unterstützen, um illegale Inhalte zu entfernen. Sie wird auch die Entwicklung von Narrativen unterstützen, die antisemitischen Online-Inhalten entgegenwirken. Die Kommission wird mit der Industrie und IT-Unternehmen zusammenarbeiten, um die illegale Darstellung und den Verkauf von Nazi-Symbolen, NS-Memorabilien und -Literatur im Internet zu verhindern. Es soll auch ein jährliches Forum der Zivilgesellschaft zur Bekämpfung von Antisemitismus organisiert werden. Dort werden Experten der Kommission und Vertreter der jüdischen Gemeinden, der Zivilgesellschaft und anderer Interessenträger zusammenkommen, um sich zu vernetzen und die Wirkung gemeinsamer Maßnahmen und EU-Mittel zu maximieren.

Die Kommission

Ursula von der Leyen: „Europa kann nur florieren, wenn seine jüdischen Gemeinschaften sich sicher fühlen und florieren.“
Ursula von der Leyen: „Europa kann
nur florieren, wenn seine jüdischen
Gemeinschaften sich sicher fühlen
und florieren.“
© Europäische Kommission

Die Kommission spricht in der Strategie auch die Erfassung gemeldeter antisemitischer Vorfälle in der EU an. Diese ist uneinheitlich, da die Mitgliedstaaten unterschiedliche Methoden anwenden. Die Vergleichbarkeit der Daten ist oft nicht gegeben. Im Rahmen der hochrangigen Gruppe zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit soll die FRA die Mitgliedstaaten bei der Verbesserung und Angleichung ihrer Methoden zur Erfassung und Erhebung von Daten über Hassverbrechen, einschließlich Antisemitismus, unterstützen.

Schutz und Förderung des jüdischen Lebens in der EU.

Damit Jüdinnen und Juden in vollem Umfang am europäischen Leben teilnehmen können, müssen sie sich sicher fühlen. Zur Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus und Terrorismus, der sich gegen Juden richtet, wird die Kommission EU-Mittel für Projekte bereitstellen, die auf einen besseren Schutz von Gebetsstätten abzielen. Europol soll ebenfalls stärker genutzt werden. Um das jüdische Leben zu fördern, wird die Kommission Maßnahmen ergreifen, um das Bewusstsein für jüdisches Leben, Kultur und Traditionen schärfen.

Bildung, Forschung und Holocaust-Gedenken.

Um die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten, wird die Kommission die Schaffung eines Netzes von Orten unterstützen, an denen der Holocaust stattgefunden hat, die aber nicht immer bekannt sind, z. B. Verstecke oder Schießplätze.
Die Kommission wird auch ein neues Netzwerk junger Europäischer Botschafter unterstützen, um das Gedenken an den Holocaust zu fördern. Mit EU-Mitteln wird die Kommission die Einrichtung eines europäischen Forschungszentrums für zeitgenössischen Antisemitismus und jüdischem Leben in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und der Forschungsgemeinschaft unterstützen. Zur Hervorhebung des jüdischen Erbes, wird die Kommission die Städte, die sich um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt Europas bewerben, auffordern, die Geschichte ihrer Minderheiten, einschließlich der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft, zu thematisieren.

Internationale Zusammenarbeit gegen Antisemitismus.

Die Kommission und der Hohe Vertreter versprechen in der Strategie, dass sie den Kampf gegen Antisemitismus, im Rahmen von politischen Dialogen und Menschenrechtsdialogen sowie der umfassenderen Zusammenarbeit mit Partnerländern außerhalb der EU fördern werden. Es sollen Schulungen zu Grundrechten und die Durchführung des interkulturellen Dialogs für einschlägige Akteure, darunter Lehrkräfte aus Drittstaaten, sichergestellt werden. In Anbetracht der Tatsache, dass in der Vergangenheit EU-Gelder für die Herausgabe von teilweise antisemitischem Lehrmaterial in palästinensischen Lehrplänen verwendet wurden, soll dies in Zukunft verhindert werden.

Umsetzung und Überwachung.

Die Strategie soll für den Zeitraum 2021-2030 gelten. 2024 und 2029 werden umfassende Umsetzungsberichte veröffentlicht. Die Mitgliedstaaten haben sich in der Erklärung des EU-Rates von 2018 zur Bekämpfung von Antisemitismus verpflichtet, alle Formen von Antisemitismus durch neue nationale Strategien oder Maßnahmen im Rahmen bestehender nationaler und/oder Aktionsplänen zur Prävention von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus zu bekämpfen. Die nationalen Strategien sollten bis Ende 2022 angenommen werden und werden von der Europäischen Kommission bis Ende 2023 bewertet werden. Österreich hat bereits Anfang 2021 eine umfassende Strategie vorgelegt.

Antonio-Maria Martino


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 1-2/2022

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