Digitale Forensik

Körpermaße als Beweis

Prof. Dr. Dirk Labudde von der Hochschule Mittweida in Deutschland stellt in seinem Buch „Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung“ neue Methoden vor, die der Polizei und Ermittlungsbehörden bei der Aufklärung von Straftaten helfen.

Diebstahl einer „Big Maple Leaf“-Münze: Die Täter wurden bei der Tatvorbereitung von Überwachungskameras gefilmt
Diebstahl einer „Big Maple Leaf“-Münze:
Die Täter wurden bei der Tatvorbereitung von
Überwachungskameras gefilmt © Fosil

Er rekonstruiert Tatorte in 3-D-Modellen, simuliert den Tathergang und schafft digitale Doubles von Opfern und Tätern. Immer dann, wenn Ermittler mit klassischen Methoden der Spurenauswertung nicht weiterkommen, wenden sie sich an Dirk Labudde. Er beschreibt in seinem Buch anhand von Fallbespielen neue Möglichkeiten digitale Mittel einzusetzen, um bei der Lösung scheinbar aussichtsloser Fälle zu helfen, wenn herkömmliche Methoden der Spurenauswertung zu keinem Erfolg führen. Im Buch werden neue Methoden zur audiovisuellen Forschung, der Einsatz von künstlicher Intelligenz und neue forensische Technologien vorgestellt. Unter digitaler Forensik versteht man das Suchen, Sichern und Analysieren von digitalen Daten, die dann zu Spuren werden und ob diese mit einer kriminellen Handlung im Zusammenhang stehen.

Gesichtsrekonstruktion.

Dirk Labbude hat eine Methode zur Körpervermessung entwickelt
Dirk Labbude hat eine Methode zur
Körpervermessung entwickelt © Privat

Mithilfe neuer Technik und Methoden wurden z. B. einige Jahrtausende alte Todesfälle in Österreich als „die ältesten Morde Österreichs“ enttarnt. Bei den Funden handelt es sich um einen 8.800 Jahre alten Schädel aus Wöllersdorf in Niederösterreich sowie ein 7.000 Jahre altes Skelett aus Pöttsching im Burgenland. Mit der am Ludwig Boltzmann Institut für Klinisch-Forensische Bildgebung entwickelten Visualisierungstechnik konnte auf Basis der Ergebnisse der Forschungsgruppe FoSIL (Forensic Science Investigation Lab) der Hochschule Mittweida ein 3-D-Modell der Gesichter der Schädel erstellt werden. Die Fälle dokumentieren, wie zum Bespiel eine Gesichtsrekonstruktion funktioniert. Lesenswert sind auch die Kapitel über die Zukunft der digitalen Forensik, inklusive einer Analyse über Risken von neuen Technologien in der Beweisführung.

Körpermaße.

2017 wurde aus dem Berliner Bode-Museum eine „Big-Maple-Leaf“-Münze gestohlen. Sie hatte einen Wert von 3,75 Millionen Euro und wog 100 kg. Die Täter wurden bei der Tatvorbereitung direkt am Tatort von Überwachungskameras gefilmt. Sie konnten aufgrund der Kleidung und des Verhaltens nicht identifiziert werden. Labudde wurde von der Polizei um Unterstützung bei der Auswertung des Videomaterials ersucht. Er und sein Team sollten die Statur von Verdächtigen mit den Videoaufnahmen vergleichen und forensisch korrekt festzustellen, ob es sich um dieselben Personen handelt oder nicht. Weltweit wurde diese Technologie noch nie angewandt, deshalb gab es auch keine Versuche, Vergleichsmethoden oder Statistiken auf die sich das Team berufen konnte. Sie wandten eine Methode aus der Filmindustrie an – Motion Capture – und versuchten damit die Tat nachzuweisen. Unter Motion Capture – Bewegungs-Erfassung – versteht man ein Tracking-Verfahren zur Aufnahme und Analyse menschlicher Bewegungen. In diesem Fall wandten sie eine 3-D-Bewegungserfassung auf Basis von Körpersilhouetten an. Ein Beispiel für eine solche Anwendung ist die Übertragung menschlicher Bewegungen auf im Computer generierte 3-D-Modelle.

Blutmusteranalyse: Blutspuren an Tatorten können mittels visueller Mustererkennung ausgewertet werden
Blutmusteranalyse: Blutspuren an Tatorten können
mittels visueller Mustererkennung ausgewertet werden
© Fosil

Warum sollte das nicht umgekehrt funktionieren? Man hatte ein Bewegungsmuster und sollte das mit den Silhouetten der Tatverdächtigen abgleichen, um eine Beweisführung zu ermöglichen. Nach Recherchen des Instituts der Hochschule Mittweida wurde eine Methode entwickelt bei der Tatverdächtige in 3-D vermessen werden. Labudde und ein Mitarbeiter fuhren zur Polizei in Berlin mit einem neu entwickelten Gerät und begannen dort die Verdächtigen zu vermessen. Sie wurden auf Drehscheiben gestellt und mit zwei Kameras aufgenommen. Wie in der Filmindustrie hatten sie künstliche Marker am ganzen Körper, die mittels Kameras verfolgt und rekonstruiert werden. Die Wissenschaftler kehren in ihr Labor zurück und begannen mit der Auswertung. Mittels KI wurden die Daten des Tatortes, ein Bahngleis mit den Tatbildern von den Überwachungskameras und dann mit den Daten der verdächtigen gefüttert. Es konnten eindeutige Übereinstimmungen zwischen Tatverdächtigen und dem originalen Bildmaterial festgestellt werden. Diese Ergebnisse stimmten auch eindeutig mit weiteren Untersuchungen von Kleidung und Schuhen überein. Auch diese hatten sich aufgrund der Videoqualität als schwierig erwiesen.
Dem Gericht wurde ein Bericht übermittelt. Dirk Labudde wurde als Zeuge zur Verhandlung geladen: Nach der Beschreibung dieser völlig neuartigen Methode begann das Kreuzverhör durch die Anwälte, Staatsanwaltschaft und Richter. Dabei stellt sich rasch heraus, dass die neue Technologie nicht verständlich genug präsentiert wurde. Es wurden zu viele Fachausdrücke verwendet ohne genau erklärt zu werden, weiters fehlten Vergleichswerte.
Wenngleich Labudde und sein Begleiter versuchten, die sprachlichen Feinheiten zu erläutern, so kam das für die erste Verhandlung zu spät. Selbst das Gericht äußerte Zweifel an der Methodik. Das Team wurde zur nächsten Verhandlung geladen, um mit IT-Equipment das Verfahren nachvollziehbar zu präsentieren. Doch da war es schon zu spät. Wenngleich die Täter aufgrund zahlreicher anderer Indizien verurteilt wurden, die Methode wurde in der Urteilsbegründung als nicht zielführend beschrieben.

Rekonstruktion eines 8.800 Jahre alten Schädel aus Wöllersdorf in Niederösterreich
Rekonstruktion eines 8.800 Jahre alten Schädel aus
Wöllersdorf in Niederösterreich © Fosil

Prof. Labudde analysierte mit seinem Team und mit Prozessbeobachtern das Geschehene. Knapp vor dem Aufgeben entschieden sie, gemeinsam weiterzumachen. Stellungnahmen zur Technologie, zur Verwendung von KI und zur Präsentation wurden eingeholt und Dutzende Personen der Hochschule Mittweida vermessen und analysiert. Immer mehr kristallisierte sich heraus, dass die Methode sehr wohl funktionierte. Gemeinsam mit der Polizeihochschule Hessen, der Polizeidirektion Göttingen und einer Leipziger Digitalfirma wurden Forschungsgelder beantragt und letztlich auch bewilligt. In der Polizeischule Göttingen wurde mit den Geldern eine Vermessungsanlage eingerichtet in der Daten gesammelt werden. Dort stellte sich bald die Einmaligkeit von Skeletten und Bewegungsabläufen heraus. Gleichzeitig wurde an Begriffsdefinitionen und Kameravergleichswerten gearbeitet. Das nun wissenschaftlich fundierte Ergebnis ist eine Wahrscheinlichkeit von 1:1000.000 feststellen zu können, dass eine vermessene Person jene auf Beweisvideos ist. Die Ungenauigkeiten der Messungen durch Kleidung werden genau analysiert und beschrieben und auch die Ungenauigkeit bei speziellen Vermessungen, wie z. B. die Schultervermessung bei hochgestreckten Armen, werden ermittelt und in die Forschungsergebnisse mit einbezogen.
Fazit von Dirk Labudde, das Verhältnis der Justiz zur Wissenschaft muss fallbezogen überdacht werden, neue ermittlungstechnische Ideen sind es Wert in forensisch anerkannte Methoden umgewandelt zu werden und nicht zuletzt sagt er: „Der Prozess um die Goldmünze war kein Reinfall sondern ein Glücksfall für mich“.

Bernhard Otupal

Dirk Labbude: Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung, Luebbe Verlag, Köln, 2022

Zur Person

Dirk Labudde, geboren 1966, hat in Rostock, Enschede und Kaiserslautern Theoretische Physik und Medizin studiert. Seit 2009 ist er Professor für Bioinformatik und digitale Forensik an der Hochschule Mittweida. Als Berater für verschiedene Polizeien der Länder und Staatsanwaltschaften hilft er bei der forensischen Aufklärung von Straf-taten und ist als Sachverständiger vor Gericht tätig. 2014 gründete er Deutschlands ersten Bachelorstudiengang „Allgemeine und Digitale Forensik“ zu dem er ebenfalls 2014 zum Professor berufen wurde. Seit 2017 ist er außerdem Leiter des Lernlabors Cyber-Sicherheit der Fraunhofer Academy. An der Hochschule Mittweida leitet er darüber hinaus die Forschungsgruppe FoSIL (Forensic Science Investigation Lab), die sich mit den verschiedens­ten forensischen Fragestellungen beschäftigt.


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 5-6/2023

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