Virtuelle Szenarien

VR-Training: Eine 360-Grad-Kamera ermöglicht es, qualitativ hochwertige und realitätsnahe Trainingssequenzen zu erstellen.
VR-Training: Eine 360-Grad-Kamera ermöglicht es, qualitativ
hochwertige und realitätsnahe Trainingssequenzen zu erstellen.
©, BZS Wien / Roland Maringer

Dynamisch, variabel, realitätsnah

Die Corona-Pandemie hat verschiedene Lebensbereiche verändert. Auch die Polizeigrundausbildung musste an die völlig neuen Gegebenheiten angepasst und flexibel gestaltet werden.

Das praktische Training zählt zu den wichtigsten Bereichen in der Polizeiausbildung. Durch verschiedene technische und taktische Übungen werden die angehenden Polizistinnen und Polizisten auf den herausfordernden und gefährlichen Polizeiberuf vorbereitet.
„Um verschiedene Szenarien, beispielsweise die Festnahme eines flüchtenden Räubers oder die Überwältigung eines alkoholisierten Gewalttäters, so realitätsnahe wie möglich üben zu können, ist körperlicher Kontakt mit den Trainingspartnern so gut wie unumgänglich“, erläutert Chefinspektor Ronald Maringer, Einsatztrainer im Bildungszentrum der Sicherheitsakademie in Wien. Seit April 2021 ist Maringer auch Fachzirkelkoordinator für digitale Einsatzkompetenz, die unter anderem die Modernisierung und Digitalisierung der Trainingsmethodik zum Auftrag hat. „Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen, beispielsweise die Einhaltung von Mindes­tabständen oder das Verbot von Kontaktsportarten, haben uns vor neue und schwierige Herausforderungen gestellt. Wir muss­ten einen Weg finden, die Polizeischüler weiterhin so realitätsnah, dynamisch und realistisch wie möglich auf ihren Beruf vorzubereiten – das Ganze aber mit Abstand und ohne Köperkontakt zu den anderen Übungsteilnehmer/-innen. Da hat sich der Einsatz eines Szenarienkinos, wo Probanden auf abgefilmte Situationen reagieren sollen, als sehr hilfreich herausgestellt.“

Mit Virtual-Reality-Brillen und speziell ausgearbeiteten Szenarien könnten Polizeibedienstete auf besonders schwierige Situationen vorbereitet werden.
Mit Virtual-Reality-Brillen und speziell
ausgearbeiteten Szenarien könnten
Polizeibedienstete auf besonders
schwierige Situationen vorbereitet
werden.
© BZS Wien / Roland Maringer

Projekt SHOTPROS.

Polizistinnen und Polizisten sind in der Regel die Ersten, die bei Notfällen, bei gewaltsamen Auseinandersetzungen, an Orten mit hohem Gefahrenpotenzial und generell in Krisensituationen eintreffen. Dazu kommt, dass Polizeibeamte häufig gezwungen sind, Entscheidungen in gefährlichen Situationen mit hohem Risiko, bei unklarer Informationslage sowie unter hohem Zeitdruck zu treffen. Im EU-finanzierten Projekt SHOTPROS wird untersucht, welche Auswirkungen psychologische und kontextuelle menschliche Faktoren auf die Entscheidungsfindung in risikoreichen Situationen haben. Dabei wird mit Mitteln der virtuellen Realität gearbeitet, um die Auswirkungen dieser Faktoren messen und bessere Trainingsmodule für Polizeibeamte entwickeln zu können. Das Ziel dieser Untersuchung ist es, die Gesamtleistungsfähigkeit unter Stress zu verbessern und den Einsatz von Körperkraft bei maximaler Sicherheit zu minimieren. Das SHOTPROS-Team umfasst 13 Projektpartner, die in den nächsten Jahren gemeinsam an diesen Zielen arbeiten werden. Dazu gehören renommierte europäische Forschungseinrichtungen, internationale Unternehmen sowie sechs polizeiliche Behörden. Mithilfe von Virtual-Reality-Lösungen entwickelt das europaweite, multidisziplinäre Konsortium in Zusammenarbeit mit führenden Polizeibehörden innovative Trainingsverfahren für First Responder in besonders riskanten Einsatzsituationen. Beispielsweise bei Angriffen mit Schuss­waffen, Amokläufen und Terroranschlägen.

Neue Bedrohungs- und Risikoszenarien

Neue Bedrohungs- und Risikoszenarien der letzten Jahre haben die Herausforderungen an die europäische Polizei und auch an die Polizistinnen und Polizisten in Österreich stark verändert. Beamte im Streifendienst finden sich immer öfter in der Rolle als First Responder in bedrohlichen und kritischen Szenarien wieder – es entstehen für die Einsatzkräfte extreme Stress- und Leis­tungssituationen. Zum Lösen dieser kritischen Situationen ist die Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen, ein wesentlicher Faktor für den erfolgreichen Ausgang eines Einsatzes.
Das Forschungsprojekt SHOTPROS setzt an diesem Punkt an und entwickelt ein Trainingsprogramm sowie eine VR-Lösung, um diese Szenarien zukünftig zu trainieren und damit die Leistungsfähigkeit der europäischen Sicherheitsbehörden weiter zu verbessern. „Aktuelle Trainings fokussieren sehr stark auf die Verbesserung von Fähigkeiten im polizeilichen Umfeld, zum Beispiel schneller Laufen oder besser Zielen im Waffengebrauch. Im Vergleich dazu ist aber das Training des Entscheidungs- und Handlungsprozesses sehr unterrepräsentiert in europäischen Trainingsplänen.
Hier setzt SHOTPROS an und und entwickelt ein innovatives Ausbildungskonzept auf virtueller Basis mit dem klaren Ziel, die polizeiliche Handlungsqualität zu erweitern und damit zu verbessern“, sagte Markus Murtinger, Projekt-Koordinator von SHOTPROS. Im Zuge des Projektes wird ein europäisches Netzwerk unterschiedlicher Polizei- und Sicherheitsbehörden gegründet. Ziel ist es, den Wissenstransfer im Bereich „Virtuelle Welten im polizeilichen Umfeld“ zu ermöglichen und eine Plattform zum Austausch anzubieten. Durch die stetige Integration der Behörden bzw. der Nutzer in jedem Projektschritt wird die zukünftige Lösung anhand der realen Bedürfnisse entwickelt. Das Projekt wird federführend von USECON betreut, ein international agierendes Design- und Beratungsunternehmen mit Hauptsitz in Wien, und im Rahmen des Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramms der Europäischen Union gefördert.

VR-Training: Die Leistungsbereitschaft im Training erhöhen und die Gesamtleistungsfähigkeit unter Stress verbessern.
VR-Training: Die Leistungsbereitschaft im Training erhöhen und
die Gesamtleistungsfähigkeit unter Stress verbessern.
© BZS Wien / Roland Maringer

Einsatz von VR bei der österreichischen Polizei.

„Techniken der virtuellen Realität bieten neue Möglichkeiten bei der Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten. Mit Hilfe von Virtual-Reality-Brillen – kurz VR-Brillen – und speziell ausgearbeiteten Szenarien könnten die Beamten auf besonders schwierige Situationen vorbereitet werden“, hebt Maringer die Vorteile der modernen Technologie hervor. „Im Bildungszentrum der Sicherheitsakademie in Wien setzen wir virtuelle Lösungen probeweise in Form eines Szenarienkinos beim Training der angehenden Polizistinnen und Polizisten bereits ein. Es handelt sich um ein laufendes Projekt, dessen Ergebnisse diesen Herbst vorgestellt werden. Maringer erläutert weiters, dass durch Virtual Reality eine komplett andere Umgebung aufgesucht werden und jedes bekannte Areal verlassen werden kann – somit steht mit relativ wenig Aufwand immer wieder neues Trainingsterrain zur Verfügung.
„Beim herkömmlichen analogen Einsatztraining kennen die Schüler mit der Zeit die Übungsörtlichkeiten und die damit verbundenen Raffinessen, auch die sogenannten Feinddarsteller wiederholen sich und sind den Trainingsteilnehmern irgendwann bekannt. VR-Szenarien sind aufgrund ihrer Vielseitigkeit – man kann rasch die Örtlichkeiten und Täterdarsteller wechseln – wesentlich unberechenbarer und erzeugen somit für die Schüler eine realitätsnahe, unbekannte und somit stressigere Übungssituation.
Ein weiterer Vorteil ist eine Standardisierung der Szenarien, da diese für jeden Übungsteilnehmer gleich ablaufen und die Reaktionen der angehenden Beamten somit einheitlich und unter gleichbleibenden Voraussetzungen bewertet werden können“, sagt Maringer. Dabei betont der Chefinspektor, dass VR-Trainings zukünftig eine sinnvolle und realitätsnahe Erweiterung zum regulären Training darstellen werden können, eine Forschung auf diesem Gebiet also unumgänglich ist. Es könne aber nur von einer Erweiterung des Szenarien-Trainings, nicht aber von einem Ersatz des Realtrainings gesprochen werden.

Selbstreflexion: Die Sicht des Täters mittels VR-Brille.
Selbstreflexion: Die Sicht des
Täters mittels VR-Brille.
© BZS Wien / Roland Maringer

Praktische Erfahrungen bei der Umsetzung in Wien.

Der bisherige Probebetrieb in der Marokkanerkaserne zeigt tendenziell, dass durch unterschiedliche Szenarien im Szenarienkino oder mit VR-Brille sich die Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler bei den Trainings wesentlich steigert. „Da man sich in einer ungewohnten Umgebung bewegt, ist das Training realistischer und fordernder. Aufgrund der vielseitigen und individuellen Szenarien ergibt das Training eine Herausforderung, auf die sich die Übungsteilnehmer nur schwer einstellen können – sie müssen spontan und realitätsgetreu handeln“, sagt der Polizist. „Im Gegensatz zu den bisherigen Video-Trainings bietet VR die Anforderung, stets wachsam zu sein und unter Anwendung des Gefahrenradars und der Umgebungskontrolle das gesamte Umfeld im Auge zu behalten.“ Die Dynamik, die die VR-Brille dem Trainingsteilnehmer vermittelt, soll auch dazu führen, dass sich Schülerinnen und Schüler ihren Blick nicht in eine Richtung versteifen, da jederzeit und im 360-Grad-Radius sich eine neue Situation ergeben oder Gefahr auftun kann – wie im echten Leben.
Die unterschiedlichen Szenarien verlangen von den Schülerinnen und Schülern der Situation entsprechend zu handeln und die erlernten Fertigkeiten kombiniert anzuwenden. Dazu zählen die korrekte Täteransprache, Körperhaltung, Beintechnik, die Wahl der Waffe im Einklang mit den rechtlichen Grundlagen und unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit, die Handhabung der Waffen und die gewählte Einsatztechnik wie beispielsweise Fußstöße oder einen Handballenstoß.

Vielseitig einsetzbar.

Der Einsatz von Virtual Reality bei der Polizei wäre dabei nicht nur auf das Einsatztraining beschränkt – Polizistinnen und Polizisten können mit dieser Technologie auch ihre Kommunikation in verschiedenen Einsatzsituationen trainieren. So könnten sie in einer imaginären aber realitätsnahen Welt üben, wie man einen Menschen davon überzeugen kann, sich nicht von einem Dach zu stürzen, wie man Todesnachrichten überbringt oder versucht, durch deeskalative Kommunikation einen Familienstreit zu entschärfen oder Gespräche mit Opfern häuslicher Gewalt auf diesem Weg zu üben.
Ein weiteres Projekt sind Interview­trainings mittels Einsatz von 3D-Kamera und VR-Brille. Ein virtueller Spiegel bietet ungeahnten Effekt bei der an­schließenden Selbstanalyse. „Es ist, als würde man sich selbst interviewen und sich dabei beobachten“, sagt Maringer. VR eignet sich sehr zur Selbstanalyse. „Es öffnet einen enormen Raum für die Nutzung moderner Technologien bei der Polizeiausbildung. Einer der wesentlichen Vorteile von Virtual Reality ist, dass man gewissermaßen spielerisch lernt, auch wenn die Themen sehr anspruchsvoll und schwierig sind“, resümiert Maringer.

Technische Voraussetzungen und Equipment.

„Derzeit verwenden wird ein offenes, nicht computerabhängiges System – alleine schon um eine uneingeschränkte Mobilität zu erreichen. Der Einsatz von VR zu Trainingszwecken erfordert in etwa einen 30 Quadratmeter großen Raum. Die Trainingsteilnehmer erhalten eine VR-Brille über die ihnen die verschiedenen Szenarien eingespielt werden“, erklärt Maringer. „Um qualitativ hochwertige und realitätsnahe Trainigssequenzen erstellen zu können, benutzen wir eine 360-Grad-Kamera.“ Dabei handelt es sich um eine Kamera, die einen 360-Grad-Rundumblick erfassen kann. Das bedeutet, sie erfasst alle Sphären, horizontal und vertikal. Das Ziel von 360-Grad-Videos ist es, dass die Nutzer sich selbstständig in der Videosequenz bewegen und die Umgebung autonom erkunden können.
„Um die 360-Grad-Videos realitätsnah und interaktiv erfahren zu können, benötigt man eine VR-Brille. Durch die Bewegung des Kopfes können die Trainingsteilnehmer sich durch das Video navigieren, fast so als wären sie selbst vor Ort“, sagt Maringer.
Ein besonderer Benefit ist die Analyse der Probanden während ihrer Abwesenheit im virtuellen Raum. „Man beobachtet die Bewegungen und körperlichen Reaktionen der Schülerinnen und Schüler in einer Situation, in der sie gar nicht darauf achten können. Das ist ein Einblick, der den Trainerinnen und Trainern nur selten gewährt wird.“ Eine darauffolgende Videoanalyse ist deswegen besonders nachhaltig.

Treffen.

Vom 16. bis 20. August 2021 fand in der Marokkanerkaserne in Wien ein von der Sicherheitsakademie (Mag. Thomas Greis, Rene Risska) veranstaltetes Treffen mit Vertretern von Polizeiakademien aus Deutschland, Belgien, der Schweiz und Österreich statt. Dabei wurden verschiedene Anwendungszugänge von Virtual Reality präsentiert und Erfahrungen mit VR-Trainings diskutiert. Vor allem die weitere Entwicklung der noch nicht ganz angekommenen, aber in den Startlöchern stehenden Trainingsmethodik, steht im Fokus dieser Vernetzung.

Gernot Burkert


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2021

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