Forensische Linguistik

Analyse von Terroristen-Propaganda

Religiöse Extremisten fühlen sich oftmals unfehlbar, da sie vorgeben, von Gott geleitet zu werden.
Religiöse Extremisten fühlen sich oftmals unfehlbar,
da sie vorgeben, von Gott geleitet zu werden.
© Screenshot: Nico Priucha

Dr. Nico Prucha erforscht arabische Quellen des salafistischen-/dschihadistischen Ökosystems. Das hat zur Entwicklung der forensischen Linguistik auf diesem Gebiet geführt. Er hat an der Entwicklung einer Extremismusdatenbank eines österreichischen KI-Unternehmens mitgewirkt, die er federführend betreut.

Forensik wird als Sammelbegriff für wissenschaftlich/technische Arbeitsbereiche verwendet, in denen kriminelle Handlungen systematisch und damit gerichtsverwertbar untersucht werden. Forensische Linguistik, ein relativ neues Konzept, kann als eine Unterdisziplin der angewandten Linguistik kategorisiert werden, die sich mit Themen an der Schnittstelle von Sprache, Gesetz und Verbrechen befasst. Im weiteren Sinne untersucht die forensische Linguistik auch Themen wie die Verständlichkeit von Gesetzestexten und die Sprache vor Gericht.

Propagandamaterial analysieren.

Dr. Nico Prucha, Experte auf dem Gebiet der forensischen Linguistik, beschäftigte sich in seiner Doktorarbeit damit, das Propagandamaterial von al-Qa’ida und IS zu verstehen und linguistisch und theologisch zu analysieren. Dafür nutzte er Texte und audiovisuelle Inhalte, die seit Anfang der 2000er-Jahre zunehmend elektronisch verfügbar sind. Nico Prucha hat Arabistik an der Universität Wien studiert. Sein Schwerpunkt ist seit fast zwei Jahrzehnten die Erforschung arabischsprachiger Videos und Schriften sunnitischer Extremistengruppen. Er unterrichtet derzeit am Institut für Orientalistik an der Universität Wien. Prucha hat an der Entwicklung einer Extremismusdatenbank mitgearbeitet.

Der Extremismus-Desk

Der Extremismus-Desk des österreichischen KI-Unternehmens T3K, den Prucha leitet, kombiniert aktuelle wissenschaftliche Forschung und 15 Jahre Expertise auf dem Gebiet des Salafismus, Dschihadismus und der Inhalte von Gruppen wie dem Islamischen Staat (IS/Daesh), Al-Qaida (AQ) und Taliban, mit einer hochentwickelten Technologie, die speziell für die Identifizierung und Erklärung dieser Daten entwickelt wurde. T3K ist ein in Wien ansässiges Unternehmen, das sich auf die Entwicklung von hochentwickelten Technologien spezialisiert, die Strafverfolgungsbehörden bei Ermittlungen im Zusammenhang mit modernen Bedrohungen unterstützten. Das Unternehmen bietet auf künstliche Intelligenz gestützte Hilfsmittel im Bereich der forensischen Linguistik, um Ermittlern als Hilfestellung zur schnellen und fachspezifischen Entscheidungsfindung bereitzustehen. Des Weiteren werden von terroristischen Gruppierungen erstellte Propaganda mittels Hash-Erkennung automatisch in Datenextraktionen erkannt und elektronische Inhalte mittels menschlich kuratierter Schlüsselbegriffe gescannt, um relevante Inhalte möglichst schnell zu finden.

Schnittstelle.

„Das Feld der forensischen Linguistik liegt auf der Schnittstelle zwischen der Wissenschaft von Sprache und menschlicher Aktivität (Linguistik) einerseits und dem Rechtsstaat andererseits. Das schließt nicht nur Strafverfolgungsbehörden im engeren Sinne ein. Vielmehr kann die forensische Linguistik allgemein für Ermittlungen relevant sein, etwa, wenn es darum geht, die Verwendung von Text, Literatur oder auch nur ganz bestimmten Begriffen zu verstehen und im Kontext der Ermittlungen näher zu erörtern, zu erklären oder zum Verständnis der Motivation von Straftätern aufzuarbeiten“, erklärt Prucha. Forensische Linguistik sei beispielsweise relevant bei Verhören, wie welche Wörter von Verdächtigen verwendet werden und sei im Fall des UNA-Bombers Ted Kaczynski von Bedeutung in der Analyse seines Essays „Industrial Society and its Future“ gewesen. Der von Kaczynksi verfasste Essay folgte dabei einer bestimmten Zitierweise, und er war altmodisch speziell in der Verwendung von Sprache und wissenschaftlichem Stil. Schlussendlich wurde Kaczynksi, der ein Universitätsprofessor für Mathematik gewesen war, von seinem Bruder als UNA-Bomber identifiziert, nachdem das FBI und die amerikanische Staatsanwaltschaft den Text des Essays in der Washington Post veröffentlicht hatten. Das war die Bedingung für Kaczynski, seine Bombenanschläge einzustellen. Bei den Bombenattentaten zwischen 1978 und 1995 in den USA starben drei Menschen, 23 weitere wurden teilweise schwer verletzt.

Religiöse Extremisten

Religiöse Extremisten fühlen sich oftmals unfehlbar, da sie vorgeben, von Gott geleitet zu werden und zeitgleich ihr menschliches Handeln im Umgang mit ihren Mitmenschen wiederum auf eine göttliche Rechtleitung und damit verbunden ein Ordnungssystem zu-rückführen. „Das wird von IS wie auch AQ in Zigtausenden Dokumenten auf zehntausenden Seiten detailliert beschrieben und diese Schriftebene wird als angewandte Form der Theologie in den Tausenden von IS/AQ-Videos gezeigt und vorgelebt“, sagt Prucha.
Terroristische Gruppen wie AQ und der IS kämpfen für kein „Utopia“ und bedienen sich nicht wahllos religiöser Literatur, die sie willkürlich für ihre Zwecke interpretierten. „Wenn man das Handeln religiöser Extremisten dem Spektrum des politischen Islam zuordnen will, dann bedarf es einer akribischen Quellenkunde der arabischen Schriften, um die Handlungsanleitungen von Dschihadisten wie auch die Weltanschauung der pro-dschihadistischen Salafisten in diesem Kontext zu verstehen“, sagt Prucha. Die Mehrheit der Schriften sei auf Arabisch und vermittle theologische Inhalte.
Dschihadisten würden Tausende von Seiten historischer Werke teilen in dem Bemühen, ihr eigenes Theologieverständnis als autoritativ zu belegen und es dann als ultimative Wahrheit auszugeben. Dschihadisten seien bestrebt, möglichst viel davon anzuwenden und würden sich in Hinrichtungsvideos oder der Tötung Homosexueller auf dieses Corpus berufen.
Nicht-militante Salafisten, die dieser Form der Theologie nahestehen und die sich beispielsweise in mehrheitlich nicht-islamischen Gesellschaften in Europa selbst segregieren, beriefen sich auf identische Autoren und Werke, die für Dschihadisten hochgradig relevant seien.

Verbindung zwischen Salafismus und Dschihadismus./h3>

Beispiel der Verwendung salafistischer Quellen in IS-Videos: Legitimierung der Sprengung einer schiitischen Moschee im Irak (gekürzt). Es ist sunnitischen Muslimen nicht erlaubt, jene Stätten des Schirk (Polytheismus) und der Idole zu belassen, die in ihrem Einfluss bereich liegen. Das sind die Symbole des Schirk und des Kufr (Unglaubens) und des größten Übels.
Beispiel der Verwendung salafistischer Quellen in IS-Videos:
Legitimierung der Sprengung einer schiitischen Moschee im
Irak (gekürzt). Es ist sunnitischen Muslimen nicht erlaubt,
jene Stätten des Schirk (Polytheismus) und der Idole
zu belassen, die in ihrem Einfluss bereich liegen.
Das sind die Symbole des Schirk und des Kufr
(Unglaubens) und des größten Übels.
© Screenshot: Nico Priucha

Laut Prucha sind es nicht nur die Schriften und Werke dschihadistisch-terroristischer Gruppen im engeren Sinne, sondern auch die Inhalte allgemein salafistischer Gelehrter, die in einem theologischen Naheverhältnis zu modernen terroristischen Gruppierungen stehen.
Diese salafistische Strömung, die eine starke Tradition historischer Gelehrter für sich beansprucht, sei wiederum eng mit dem Wahhabismus verwandt, der dominanten sunnitischen Auslegung des Islams in Saudi-Arabien. „Ein Buch ibn Taymiyyas, eines Gelehrten aus dem 14. Jahrhundert, mit dem Titel Das scharfe Schwert auf jenen, der den Propheten beleidigt, wurde nicht nur von AQ-Sympathisanten verwendet, um damit die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh in Ams­terdam 2004 zu legitimieren, sondern ist auch die maßgebliche theologische Obligation laut AQ für den tödlichen Angriff auf die Charlie-Hebdo-Redaktion 2015“, sagt Prucha.
In dschihadistischen AQ- und IS-Online-Kreisen sei dieses Werk wieder populär nach der Ermordung eines Lehrers Ende 2020 in Frankreich, der den Propheten durch das Zeigen der Charlie Hebdo Muhammad-Karikaturen in dieser Denkweise beleidigte. Dschihadisten beriefen sich auf Schriften historischer Gelehrter und rechtfertigen damit Anschläge, Hinrichtungen von Muslimen und Nicht-Muslimen, und definierten auf theologischer Grundlage ihre Weltsicht.

Der Islamische Staat

Der Islamische Staat ist nicht minder auf historische Gelehrte wie ibn Taymiyya fixiert und verwendet seine Schriften, um die gezielte Ermordung von sunnitischen Muslimen, Schiiten und Nicht-Muslimen in den Worten Ibn Taymiyyas zu rechtfertigen“, sagt der Terrorismus-Experte. Für die meisten Muslime weltweit hat laut Prucha diese Form des Salafismus keinerlei Geltung oder Autorität. Die für den Terrorismus relevanten Gelehrten des Wahhabismus wie Muhammad ibn Abd al-Wahhab, dessen Werke beispielsweise für den Islamischen Staat außerordentlich wichtig seien, seien für die meisten Muslime unbedeutend. Musliminnen und Muslime in Österreich seien das Hauptzielpublikum des militanten und nicht militanten Politischen Islams und würden obendrauf oftmals von grundsätzlich „islamkritischen“ Kreisen angefeindet, die den Islam grundsätzlich als Gefahr verstehen würden. Daher bedürfe es einer besonders genauen Quellenkunde bei der Propaganda, den Schriften, Videos und der Wortmeldungen in Online-Kommunikationsnetzwerken, um strategische Versuche der Einflussnahme durch militante und nicht militante Gruppen zu erkennen und durch die Anwendung bestehender Gesetze zu unterbinden. Es gehe darum, dass jene theologischen Inhalte, die von Terroristen genutzt werden, klar erkannt werden.
Terroristen nutzen ein Ökosystem, bestehend aus Hunderten Schriften wahhabitischer Gelehrter, um eine gezielte religiöse Identität zu vermitteln, die von den Terroristen durch Gewalt umgesetzt wird. Die Schriften historischer wie zeitgenössischer Gelehrter werden immer wieder von dschihadistischen Netzwerken verbreitet bzw. ganze Bücher mit IS-Logo publiziert und in ihren eigenen Schriften und Videos zitiert – und vermitteln so Kohärenz in den Erklärungen ihrer Taten.

Woraus besteht dieses Ökosystem?

Der Islamische Staat nimmt laut Prucha Bücher, beispielsweise verfasst von Muhammad ibn Abd al-Wahhab im 13. Jahrhundert, die weltweit von saudischen Institutionen vertrieben werden, und veröffentlicht diese mit eigenem Stempel. Die Schriften von Abd al-Wahhab vermitteln detailgetreu warum Polytheismus (Arabisch: Schirk) eine Sünde ist und definieren was Unglaube (Arabisch: Kufr) ist und warum Schiiten (beleidigend rafidi) keine Muslime sind und verfolgt werden müssen. Zusammen mit weiteren Gelehrten, beispielsweise der Schriften Ibn al-Qayims (13. Jahrhundert). IS stellt seine eigenen Schriften her, bietet parallel dazu die Schriften Abd al-Wahhabs und weiterer Gelehrter an, und vermittelt so eine kohärente Theologie der Gewalt. In den Videos des IS kommen dann neben den theologischen Schlüsselbegriffen, die komplexe theologische Inhalte vermitteln, oft Zitate von nicht IS-Gelehrten vor, die damit Handlungen und Aktionen des IS legitimieren.

Forensische Linguistik

Forensische Linguistik in diesem Kontext bedeute, akribisch die arabischen Schriften und allgemein die arabisch dominierte Propaganda von Terrorgruppen wie AQ und IS zu studieren und zu kategorisieren, mit einem Fokus auf der Verwendung der oftmals im Westen als „salafistisch“ bezeichneten theologischen Literatur in den Schriften und Videos von AQ und IS. Somit könne evidenzbasiert nachgewiesen werden, ob und in welcher Tiefe Predigten, Bücher, Lehrpläne oder Einzelpersonen ein Naheverhältnis zur Theologie der Gewalt der Dschihadisten zeigten oder dem nicht gewalttätigen „salafistischen“ Ökosystem angehörten, aus dem Dschihadisten weltweit rekrutierten.
Die salafistischen Online-Netzwerke, die terroristische Gruppierungen nutzen, sind in der Regel nicht von Löschung oder Sperren auf den jeweiligen Online-Plattformen betroffen.
„In dem wir evidenzbasiert konseqent Schriften, die zum Hass aufrufen oder zum Mord anstiften, erkennen und entsprechend bewerten, können Netzwerke, die diese Gesinnung gutheißen, langfristig eingedämmt werden. Hierfür bedarf es einer intimen Kenntnis der arabischen Originalschriften die für salafistisch-dschihadistische Netzwerke relevant sind“, erklärt Prucha.
Nur so sei eine Anwendung der forensischen Linguistik im Bereich der nicht arabischen Schriften und allgemeinen Medien möglich, um damit die Verbindung zwischen der Theologie der Gewalt und den Übersetzungen für beispielsweise ein europäisches Zielpublikum zu belegen.
Wenn theologische Begriffe und Konzepte aus dem arabischen Kontext in nicht-arabischen Schriften bzw. Online-Diskussionen erscheinen, beispielsweise das theologische Konzept des „Märtyrertodes“ oder des extremistischen Schirk-Verständnisses und dergleichen, stelle die Anwendung der forensischen Linguistik den Bezug zu den arabischen Originalschriften her, um damit die Bedeutung in der jeweiligen Übersetzung zu eruieren.

Zieladressaten

Zieladressaten dieser salafistischen/-dschihadistisch motivierten Einflussnahme seien Muslime in Österreich und Europa. Das habe laut Prucha in vielen Bereichen zu einer „Securitization“ geführt. Muslime würden oftmals stigmatisiert. 2005 schrieb der AQ-Ideologe Abu Mus’ab al-Suri nach den Anschlägen in London 2005 in einem offenen Brief, dass Muslime im Westen als allgemeines Sicherheitsproblem eingestuft und somit die Rekrutierung für AQ und das dazugehörende salafistische Umfeld erleichtern würden. Der Brief al-Suri’s wurde in damaligen AQ-On­linekreisen weit verbreitet und beeinflusste Artikel im Englischen AQ-Magazin Inspire, wo zum Mord mit Fahrzeugen in westlichen Ländern bereits 2010 aufgerufen wurde.
Dieser „Securitization“ entgegenzuwirken bedeute, zu verstehen, dass die von terroristischen Gruppierungen gelebte und durch salafistische Kreise beförderte Theologie keinerlei Geltung oder Autorität habe. „Muslime in Österreich, Europa und weltweit geraten durch Extremisten zunehmend unter Druck und wir sollten anerkennen, dass sie die Hauptzieladdressaten dieser Propaganda sind, anstatt muslimische Communities nur aus einem Blickwinkel sicherheitsrelevanter Aspekte zu betrachten“, sagt Prucha.

B. O.

Information: https://onlinejihad.net 


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 1-2/2022

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