Studie

Terroranschlag in Wien: Derartige Einsätze sind für Polizistinnen und Polizisten mit Hochstress verbunden.
Terroranschlag in Wien: Derartige Einsätze sind für
Polizistinnen und Polizisten mit Hochstress verbunden.
© Gerd Pachauer

Erstarren in Hochstresssituationen     

Eine niederländische Soziologin beschäftigte sich mit dem Verhalten von Polizistinnen und Polizisten in Hochstresssituationen. Sie plädiert dafür, diese bereits in der Polizeiausbildung auf Hochstresssituationen vorzubereiten.

Polizisten dürfen nicht weglaufen. Von ihnen wird erwartet, in gewalttätigen oder gefährlichen Situationen zu verharren und über sie Kontrolle zu erlangen. Sie selbst müssen dabei rational handlungsfähig bleiben. Was passiert jedoch, wenn Polizisten in Hochstresssituationen überfordert sind und handlungsunfähig werden? Eine Studie aus den Niederlanden beschäftigt sich mit diesem Thema, das in Polizeikreisen oft tabu ist.

Erfahrungen.

„Ich erinnere mich: Die ersten Sekunden bin ich einfach dagestanden und habe geschaut. Ich habe gedacht: Wow. Und danach ist mir erst eingefallen, dass ich da eingreifen muss. Es kann auch länger als ein paar Sekunden gewesen sein, bis ich dachte: Wach auf! Greif ein! Warum brauchst du so lange, um in die Gänge zu kommen?“ Mit Erfahrungen dieser und ähnlicher Art von Polizistinnen und Polizisten beschäftigt sich Laura D. Keesman vom Institut für Soziologie der Universität Amsterdam, wobei Einsatzbeamte in Hochstresssituationen erstarren und nicht mehr auf externe Reize reagieren. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Lähmungserscheinung des Körpers, sondern die Betroffenen legen oft auch irrationales, panisches und nicht orientiertes Verhalten an den Tag. Sie verlieren einen Sinn für Orientierung, der sich in chaotischem, unentschlossenem und oft auch wiederholendem Verhalten ausdrückt, indem sie beispielsweise ständig vor- und zurückgehen.

Außenstehende Beobachter

Außenstehende Beobachter berichten, dass Betroffene den „Kontakt mit der Welt“ verlieren, „unerreichbar“ sind und „in ihrer eigenen Welt verfangen“ erscheinen. In vielen Fällen haben Betroffene danach Schwierigkeiten, sich an das Geschehene zu erinnern.

Reizüberflutung.

Aus Erfahrungsberichten mit 76 Polizeibeamten schließt die Studienautorin, dass „Erstarren“ in Hochstresssituationen oder etwa in Situationen passiert, in denen Betroffene einer Reizüberflutung ausgesetzt sind. Manchmal kommt erschwerend hinzu, dass sie dabei an ähnliche, bereits erlebte negative Situationen erinnert werden, die sie in Furcht versetzen. Diese Verunsicherung setzt die Betroffenen einem erheblichen Stress aus, in einer ähnlich gelagerten Situation professionell einzugreifen. Die Mehrheit der Befragten gab an, dass „Erstarren“ in unvorhersehbaren Situationen passierte, für die sie nicht trainiert waren. Sie wussten nicht, was von ihnen erwartet wurde und welche Handlung sie als Nächstes setzen sollten.

Richtige Atmung.

Laut Erfahrungsberichten verlassen Polizistinnen und Polizisten das „Erstarren“, indem sie sich orientieren und ihre nach außen gerichteten Sinne aktivieren: Sie beobachten ihre Umgebung, tasten sich selbst ab und ihre Atmung normalisiert sich. Die Studienautorin verweist dabei auf die Bedeutung der richtigen Atmung, um der Starre zu entkommen: Hyperventilation erschwert eine koordinierte Handlung. Bewusste Atmung orientiert Betroffene im Hier und Jetzt und in ihrer Umwelt. Atmung trägt zu Harmonie zwischen Intention und Handlung bei. Der bewusste Einsatz von Atmung, etwa bei einem Schusswechsel, ist ein wichtiger Beitrag, um im Austausch mit der Umwelt zu bleiben. Polizeikollegen, die bei einem Einsatz mit einem „erstarrten Kollegen“ konfrontiert waren, berichten davon, wie sie Kollegen aus der Starre befreit haben: Sie haben den Betroffenen mit Namen angeschrien, Augenkontakt gesucht und vor allem angegriffen und „wachgerüttelt“. Vor allem das Angreifen sei das beste Mittel, um einen Erstarrten wieder räumlich und zeitlich zu orientieren.

Stigmatisierung.

Laut Studienergebnissen werden Polizistinnen und Polizisten oftmals stigmatisiert, die bei Einsätzen erstarrt sind. Sie werden „Weichling“ genannt, als „schwach“ bezeichnet und von Kollegen aufgefordert, sich einen anderen Job zu suchen. Ihr Verhalten entspreche nicht den Erwartungen an einen Polizisten und würde andere in Gefahr bringen. Betroffene würden unter ihrem eigenen Verhalten leiden und versuchen, Situationen des „Erstarrens“ zu vermeiden (indem sie auf die Toilette gehen oder einen Umweg mit dem Streifenwagen an einen Einsatzort fahren).

Polizeiausbildung.

Polizistinnen und Polizisten sollten bereits in der Grundausbildung auf Hochstresssituationen vorbereitet werden.
Polizistinnen und Polizisten sollten bereits in der Grundausbildung
auf Hochstresssituationen vorbereitet werden.
© Gerd Pachauer

Die Studienautorin plädiert dafür, früh genug in der Polizeiausbildung anzusetzen und Polizeischüler in Hochstresssituationen zu versetzen, in denen sie Furcht ausgesetzt sind. Das helfe ihnen in späteren Situationen im Berufsleben, auf die Vorerfahrungen in der Ausbildung zurückzugreifen und rasche Antworten in Stresssituationen zu finden.
Im besten Falle greifen sie in Hochstresssituationen auf Erlerntes bei Trainings zurück und bewältigen durch unbewusst instinktive Handlungen Ausnahmesituationen. Durch vermehrtes Training, wie etwa bei Sondereinsatzeinheiten, werden Polizistinnen und Polizisten ausführlicher auf fordernde Szenarien und ihre dabei notwendigen Handlungen vorbereitet. Das ist ein wesentlicher Schlüssel, um Einsatzbeamte bestmöglich für schwierige Situationen zu wappnen und sicherzustellen, dass sie handlungsfähig bleiben

M. L. 

Quelle: www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10439463.2021.2003359 

USA

Rückgang der Jugendkriminalität

Wissenschaftler der US-amerikanischen Pennsylvania State University haben sich in einer kürzlich veröffentlichten Studie mit Gründen für den Rückgang der Jugendkriminalität in den USA auseinandergesetzt. Von 1991 bis 2015 ging die Jugendkriminalität bei Gewalt- und Eigentumsdelikten um über dreißig Prozent zurück.

Erklärungsansätze.
Die Studienautoren liefern hierfür Erklärungsansätze. Ihrer Beurteilung nach, kann der Rückgang der Jugendkriminalität nicht auf geänderte schulische oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder beispielsweise auf geänderte elterliche Aufsicht in der Freizeit zurückgeführt werden. Obwohl diese Faktoren einen Einfluss auf jugendliche Täter und ihr Verhalten haben können, haben sich diese Rahmenbedingungen im Untersuchungszeitraum nicht geändert. Sie bieten somit keinen ausreichenden Erklärungsansatz für den Rückgang der Jugendkriminalität. Die Studienautoren sehen vielmehr andere Zusammenhänge als relevant an: Die physische und auch virtuelle Beobachtung von Jugendlichen ist im Untersuchungszeitraum an Schulen und im gesellschaftlichen Umfeld angestiegen.
Diese geänderte Rahmenbedingung habe ihre Bereitschaft unterdrückt, Erfahrungen mit Kriminalität zu machen. Ausschlaggebend dafür war auch die subjektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, bei kriminellen Taten erwischt zu werden und in Folge strafrechtlich sanktioniert oder durch Autoritätspersonen abgestraft zu werden.
Die Studienautoren sehen – im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Abhandlungen – keine direkten Zusammenhänge mit geänderten Erziehungstechniken von Bezugspersonen. In anderen Studien hatten die Autoren argumentiert, dass Jugendliche durch eine ungleich mehr beschützerische Erziehungsweise der Eltern im späteren Leben ausgeprägter risikoreiche Handlungen abwägen und daher seltener Gewalt- und Eigentumsdelikte begehen. Zentrales Argument, das sie zudem für die Abnahme von Jugendkriminalität nennen, ist die Nutzung von Computern, des Internets, von Videospielen und Mobiltelefonen, die im Untersuchungszeitraum eine zunehmende Unterhaltung und Beschäftigung in den eigenen vier Wänden ermöglichte und die dazu führten, dass Freundschaften verstärkt virtuell gepflegt werden. Dies habe zu einem Rückgang der Konsumation von Alkohol unter Jugendlichen geführt, weshalb weniger risikoreiches Verhalten an den Tag gelegt und dadurch weniger strafbare Handlungen gesetzt wurden.

Quelle: onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/1745-9125.12264 


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 3-4/2022

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