Russland-Ukraine-Konflikt

Wie geht es weiter?

Expertinnen und Experten diskutierten bei einer Podiumsdiskussion zum Russland-Ukraine-Konflikt u. a. die Fragen ob ein neuer „Kalter Krieg“ droht, welche Szenarien für die kommenden Monate zu erwarten sind und welche Erwartungen in die Weiterentwicklung der transatlantischen Beziehungen zu setzen sind.

Podiumsdiskussion: Moderator Thomas Goiser; Vortragende Dieter Bacher, Ewa Martyna-David, Berthold Sandtner, Lukas Wank; Rainer Newald (Generalsekretär Österreichisch-Amerikanische Gesellschaft)
Podiumsdiskussion: Moderator Thomas Goiser; Vortragende
Dieter Bacher, Ewa Martyna-David, Berthold Sandtner,
Lukas Wank; Rainer Newald (Generalsekretär
Österreichisch-Amerikanische Gesellschaft) © David Jaklin

Die Österreichisch-Amerikanische Gesellschaft lud am 22. Februar 2023 in Wien zur Podiumsdiskussion „Krieg um und in Europa – wie geht es weiter? Unter der Moderation von Thomas Goiser sprachen Dieter Bacher (Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung), Ewa Martyna-David (ehem. polnische Diplomatin und unabhängige Analystin), Berthold Sandtner (BMLV) sowie Lukas Wank (stv. Direktor des Austrian Centre for Peace). Thomas Goiser kündigte dabei die kommende Ausgabe des Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies an – eine Sonderausgabe, die sich dem Krieg in der Ukraine widmet und zu der Ewa Martyna-David und Dieter Bacher Artikel beigesteuert hatten.

Verhärtete Fronten.

Auf die Frage nach dem aktuellen Stand der Dinge, berichtete Lukas Wank, dass es eine neue Dynamik auf sicherheitspolitischer Ebene gebe. Nicht nur in militärischer Hinsicht, sondern auch politisch, müsse man von verhärteten Fronten sprechen. Dies zeigte sich auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz, die von Durchhalteparolen des Westens geprägt war. Im Gegensatz dazu zeichnete sich die Rede zur Lage der Nation von Präsident Putin dadurch aus, dass er die üblichen russischen Narrative von einer Kriegsschuld des Westens bemühte und New START (das Abrüstungsabkommen für nukleare Waffen) aussetzte.

Die Welt befindet sich Wank zufolge in einer zunehmenden Unsicherheit. Lieferketten sind zerbrochen, die Armut im globalen Süden nimmt zu (mit nicht abzusehenden Folgen für Europa) und man kann ein neues Machtvakuum durch die Inaktivität Russlands beobachten, das nun von der Volksrepublik China gefüllt wird. Er schloss mit drei Aussagen, die man diskutieren könne: 1) Wie wird sich die Rolle der USA in Europa weiterentwickeln? 2) Europa muss sich nun aufgrund der neuen Herausforderungen beweisen. 3) Auf globaler Ebene gilt es die Hoheit auf das Narrativ zu haben.

„Im Osten nichts Neues“.

Oberst Berthold Sandtner begann seine militärische Einschätzung mit einer Referenz auf den berühmten Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Auf den Osten umgemünzt, könne man laut Sandtner trotz des überraschenden Erfolges der ukrainischen Kharkiv-Offensive aktuell von keinen Neuigkeiten berichten. Derzeit handle es sich um eine verfahrene Situation, in der es nur um marginale Geländegewinne von wenigen hundert Metern ginge. Dabei bemühte er einen Vergleich mit der Schlacht bei Verdun, die ähnliche Bilder hervorbrachte, wie man sie derzeit aus dem Osten der Ukraine kennt. Je nachdem wie man die Lage betrachte, könne man entweder von der 5. oder 6. Phase des Krieges sprechen.
Was in den kommenden Monaten schlagend werden wird, sei das Problem des Personals. Denn während Russland zahlentechnisch über ein immenses Menschenpotenzial verfügt, kämpft die Ukraine schon jetzt mit Personalmangel und der Ermüdung ihrer Truppen. Russland sei zwar derzeit in der Offensive, aber das Zeitfenster für weitere Offensiven sei relativ kurz, da demnächst durch den Frühling weitere Vorstöße durch Schlamm verzögert werden würden. Insofern sieht Sandtner erst im Sommer weitere größere Offensiven kommen.

Wunschlisten.

Ewa Martyna-David skizzierte die polnische Unterstützung für die Ukraine. Hier gebe es eine rege militärische Zusammenarbeit in punkto Training und der Lieferung von Rüstungsgütern. Im Grunde würden die ukrainischen Stellen ihre Wunschlisten übermitteln und Polen liefert, was möglich ist. Im Laufe des vergangenen Jahres sei auf diese Weise massenweise Material aus den Beständen der Sowjetzeit exportiert worden – von tragbaren Raketensystemen bis hin zu Panzern. Gleichzeitig unterstützt die Zivilgesellschaft ukrainische Flüchtlinge in großem Ausmaß. Insofern ist Polen stärker involviert, nicht zuletzt deshalb, da man die längste Landesgrenze zur Ukraine hat. Gerade in punkto „Grenze“ habe Polen auch andere Herausforderungen. Als ein Land der Schengen-Außengrenze habe man mit großen Zahlen von illegalen Grenzübertritten zu kämpfen, vor allem über Belarus. Im Jahr 2021 wurden z. B. 41.000 Illegale gezählt, die gezielt über die Grenze geschickt worden waren. Hier hat Polen mit einem Grenzzaun reagiert.

Russische Frontberichte.

Berthold Sandtner: „Die baltischen Staaten unterstützen am meisten die Ukraine.“
Berthold Sandtner: „Die baltischen
Staaten unterstützen am meisten die
Ukraine.“ © David Jaklin
Ewa Martyna-David skizzierte die polnische Unterstützung für die Ukraine
Ewa Martyna-David skizzierte die
polnische Unterstützung für die
Ukraine © David Jaklin

Dieter Bacher widmete sich den Ausführungen eines desertierten, russischen Soldaten. Unter dem Titel „ZOV“ hielt Pavel Filatyev, ein langgedienter Soldat der russischen Luftlandetruppen seine Eindrücke aus dem Ukraine Krieg fest. Bacher unterzog dessen Berichte einer kritischen Betrachtung und verglich u. a. die zuvor im Internet publizierten russischen Ausschnitte mit jenen des publizierten Buches. Ihm zufolge sei es bemerkenswert, zeitgleich zum Krieg bereits derartige Frontberichte erscheinen zu sehen. In früheren Konflikten war dies nämlich nicht der Fall, weshalb Filatyevs Buch ein Sonderfall ist. Der Soldat, der während seines Einsatzes immer wieder kleinere Texte auf dem Handy geschrieben hatte, entwickelte während seines Einsatzes in der Ukraine eine kritische Sicht auf den Krieg. Ihm zufolge sei dieser nicht nur schlecht vorbereitet worden, sondern habe auch gezeigt, dass die schlechten und korrupten Strukturen in der russischen Armee maßgeblich für den Miss­erfolg verantwortlich sind. Bacher zitierte Filatyevs Einschätzung, dass Russland keinen Krieg benötige, da man sich selbst fertig machen würde.

Sind wir aufgewacht?

Dieter Bacher: „Seit 1968 gibt es Beziehungen zwischen Russ land und Österreich.“
Dieter Bacher: „Seit 1968 gibt es
Beziehungen zwischen Russ land und
Österreich.“ © David Jaklin

Die erste Diskussionsrunde wurde mit der prägnanten Frage eröffnet, ob Österreich bzw. Europa aufgewacht seien. Lukas Wank zufolge sei dies auf EU-Ebene sehr wohl passiert, im Falle Österreichs spürt man den Krieg jedoch anders. Vor allem auf humanitärer Seite ist die österreichische Hilfe enorm und im Vergleich zu anderen neutralen Ländern wird die Neutralität in Österreich anders gelebt. Diplomatisch habe man deshalb viel Spielraum, auch als Ort von Verhandlungen – derzeit sei hierfür aber noch der falsche Zeitpunkt. Wank fügte hinzu, dass der Krieg in der Ukraine ein Anachronismus zu den „neuen Kriegen“ in Syrien und Afghanistan wäre – denn hier handle es sich nun um einen klassischen „alten Krieg“ und selbige enden immer in einer Fragmentierung der kriegführenden Parteien.
Nach Berthold Sandtner ist das militärische Betroffenheitsgefälle sehr unterschiedlich. Vor allem die baltischen Staaten unterstützen am meisten die Ukraine. Er selbst sei sehr überrascht gewesen, als sich Verteidigungsministerin Klaudia Tanner an der Luftabwehr-Initiative der EU – Sky Shield – interessiert gezeigt hatte. Da Bedrohungen „manifest“ seien, stelle sich die Frage, mit welchen Mitteln wir Österreich verteidigen.
Ewa Martyna-David widmete sich mehr der polnischen Perspektive. Ihr Heimatland wurde sehr oft von den USA aufgrund der hohen Verteidigungsausgaben gelobt. Diese würden jetzt aufgrund der neuen Sicherheitslage nochmals erhöht werden. Zudem würde Polen nun vermehrt von den USA und Südkorea Rüstungsgüter beziehen, anstatt wie zuvor in Deutschland einzukaufen.
Thomas Goiser fragte Dieter Bacher als Historiker, wie er die Bezeichnung eines neuen Kalten Krieges einstufen würde, die zuletzt vermehrt kolportiert wurde. Bacher zeigte sich kritisch gegenüber aktuellen Einschätzungen und dass es schwer abzuschätzen sei, ob eine neue Bipolarität der Weltordnung oder ein Eiserner Vorhang entstehen würde. Er nutzte die Gelegenheit, um auf die Ausführungen Wanks zur Neutralität einzugehen. Diese sei ja von der damaligen UdSSR 1955 forciert worden, die darauf bestand. Selbige war auch Russland immer wichtig – zuletzt, als Österreich der EU betrat. Nun würde sich eine neue Gemengelage bilden, da Russland wegfällt.

Eine neue Bipolarität?

Lukas Wank: „Ein neues Machtvakuum wird von der Volksrepublik China gefüllt.“
Lukas Wank: „Ein neues Machtvakuum
wird von der Volksrepublik China gefüllt.“
© David Jaklin

Die zweite Diskussionsrunde galt Fragen aus dem Publikum. Vor allem die unterstützende Rolle Chinas und die NATO-Erweiterung mit Schweden und Finnland rückte dabei in den Fokus. Lukas Wank zufolge ist eine Entwicklung in Richtung Bipolarität schon lange ein Thema, vor allem für die USA. Letztere fokussieren sich seit Jahren auf diese neue Konkurrenzsituation. China sendete zuletzt auch starke Signale durch die Teilnahme hoher Vertreter an der Münchner Sicherheitskonferenz. In Bezug auf die NATO ist laut Sandtner die militärische Lage anders zu beurteilen. Die Bedrohungswahrnehmung der beiden Länder ist eine komplett andere als in Österreich. Aber bis vor einem Jahr war ein NATO-Beitritt für Finnland z. B. undenkbar. Erst durch die „Zeitenwende“ gab es hier ein rasantes Umdenken. Für Österreich stellt sich hierbei die Frage, welche Rolle man in dieser neuen Realität einnehmen wolle – letzten Endes hätte nämlich auch die EU militärische Beistandsklauseln. Nichtsdestotrotz gäbe es laut Sandtner aber nicht nur die militärische Dimension – Österreich habe den Mehrwert eines neutralen „Brokers“.

Russifizierung der Energie.

Auch die europäische Abhängigkeit von russischer Energie wurde thematisiert. Ewa Martyna-David zufolge wird sich die EU vermehrt mit erneuerbaren Energien auseinandersetzen müssen um sich zu diversifizieren. Vor allem die österreichische und deutsche Abhängigkeit von russischem Erdgas wurde im letzten Jahr einmal mehr deutlich vor Augen geführt – mit ein Grund, dass die EU sich hier nicht auf Sanktionen einigen konnte. Im Gegenzug dazu hätte sich Polen seit Jahren über verschiedene Projekte diversifiziert. Dieter Bacher ordnete die österreichische Bindung an den russischen Markt historisch ein. Man dürfe nicht vergessen, dass seit 1968 Beziehungen zwischen beiden Ländern bestehen und eine Infrastruktur ausgebaut worden ist. Allein schon deshalb benötige ein Ausstieg viel Zeit.

David Christopher Jaklin


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 7-8/2023

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