Kriminalgeschichte

Der „Gelbe“ und seine „Platte“

In der Zwischenkriegszeit gab es in Wien eine Reihe von Einbrüchen bei Juwelieren und in andere Geschäftslokale. Die Einbrecher drangen über das Kanalnetz zu den Tatorten vor.

Im August 1925 bemerkte die Inhaberin eines Pelzwarengeschäftes in Wien, dass einige Pelze und eine höhere Bargeldsumme fehlten. Die Frau übersah ein Loch im Fußboden, stürzte durch die Öffnung in den Keller

Ansicht der Marktgasse im Lichtental um 1899: Hier wohnte der „Gelbe“ in der Zwischenkriegszeit
Ansicht der Marktgasse im Lichtental um 1899: Hier wohnte
der „Gelbe“ in der Zwischenkriegszeit
© Alt-Wiener Ansichten/Wienbibliothek im Rathaus

und brach sich den rechten Unterschenkel. Der Einbrecher war durch einen Abwasserkanal unter das Haus gelangt und hatte ein Loch in die Decke gestemmt, um in das Geschäft zu kommen. Die Kriminalbeamten des Wiener Sicherheitsbüros vermuteten, dass der „Gelbe“ wieder zugeschlagen haben könnte und verhafteten den Anstreichergehilfen Rudolf Kühnl. Die Ermittler wiesen ihm nach, mit wechselnden Komplizen mehrere Einbrüche begangen zu haben. Kühnl hatte sich auf „Hack‘n“ spezialisiert, bei denen er über das Wiener Kanalsystem, in der Gaunersprache „Tiefling“ genannt, zu seinen Tatorten gelangte, den Boden durchstemmte und in den Geschäften vor allem Kassen „aufriss“. Anfang 1926 fasste Kühnl eine fünfjährige Kerkerstrafe aus. Mitverurteilt wurden zahlreiche Komplizen der „Lichtentaler-Platte“, dessen Anführer Kühnl war.

Rudolf Kühnl stammte aus ärmlichen Verhältnissen und wuchs im Lichtental in Wien-Alsergrund auf. Seine kriminelle Karriere begann früh. Nach einem Einbruch wurde er 1907 als Sechzehnjähriger erstmals zu einer Arreststrafe verdonnert. Später wurde er immer wieder vor allem wegen Eigentumsdelikten verurteilt. Während seiner Militärzeit war Kühnl in einer Garnison in Bosnien stationiert. Auch dort verübte er Einbrüche und Diebstähle. Das Militärgericht verurteilte ihn zu einer dreijährigen und später zu einer vierjährigen Kerkerstrafe.
Kühnl war stark tätowiert und hatte wegen seiner semmelblonden Haare den Spitznahmen „der Gelbe“. Er war Kettenraucher, Trinker und galt als „Weiberheld“. Einige seiner Freundinnen gingen auf den Strich und mindestens einmal raubte Kühnl einen Freier aus. Im November 1916 wurden der „Gelbe“ und ein wegen Schwerverbrechen zum Tod durch den Strang verurteilter, aus der Haft geflüchteter Mann in einer Wohnung im Lichtental von einem Polizisten angetroffen. Um einer Festnahme zu entgehen, sprangen die beiden Kriminellen durch das Fenster aus dem zweiten Stock auf die Straße. Dabei verletzten sie sich und konnten festgenommen werden.
Bald nach dem Tod seines Vaters 1919 wollte seine Mutter keinen Kontakt mehr mit ihrem kriminellen Sohn. Danach hatte Kühnl keinen festen Wohnsitz, ausgenommen das Gefängnis. Bei einer „Tiefling-Hackn“ mussten Kühnl und zwei Komplizen im Juli 1922 wegen eines Wolkenbruchs und rascher Wasseransammlung vorzeitig bei Tageslicht aus dem Kanalnetz an die Oberfläche steigen. Dabei wurden sie von einem Polizisten gesehen. Während den Komplizen die Flucht gelang, wurde der „Gelbe“ festgenommen. Er hatte ein Brecheisen und anderes Einbruchswerkzeug bei sich, behauptete aber, das Werkzeug im Kanal gefunden zu haben. Kaum wieder in Freiheit, wurde er rückfällig.

Spektakulärer Ausbruch.

Zwei Jahre nach Antritt seiner fünfjährigen Kerkerstrafe brachen der „Gelbe“ und sechs weitere Häftlinge am 2. Oktober 1928 aus dem Gefängnis Stein aus. In monatelanger Arbeit hatten sie mit Löffeln ein Loch durch die Betonwand geschafft und waren durch einen Kanal ins Freie geflüchtet. Sie durchschwammen mehrmals die Donau bzw. Seitenarme und kamen erschöpft in Wien an. Ein Oberwachmann erkannte Kühnl und einen zweiten Stein-Ausbrecher am 14. Oktober 1928 im Lichtental in Wien und eskortierte sie zum Kommissariat Alsergrund. Wegen Beamtenbeleidigung bei ihrer Ergreifung – sie hatten den Polizisten unter anderem als „Rotzpipn“ beschimpft – wurden Kühnl und sein Komplize im Strafbezirksgericht Wien zu einer Woche Arrest verurteilt. Sie widerriefen mit der Begründung, sie seien ehrlos und könnten daher niemanden beleidigen.

„Al Capone vom Lichtental“.

Rudolf Kühnl wurde am 14. Jänner 1931 aus Stein entlassen. Bis dahin hatte er bereits 16 Eintragungen auf seiner „Speisekarte“ (Strafregister) und 18 Jahre im „Häfen“ verbracht. Am Ostersonntag 1931 wurde Kühnl neuerlich festgenommen. Er hatte Einbruchswerkzeug sowie Beute bei sich, die aus einer „Hackn“ in die Filiale und ins Büro eines Konsumvereins in der Vorgartenstraße stammte. Als Rückfalltäter wurde der „Gelbe“ zu vier Jahren Haftstrafe verurteilt. Danach verliert sich die Spur des „Gelben“, der in einer Tageszeitung als „Al Capone vom Lichtental“ bezeichnet worden war.

Werner Sabitzer

Quellen/Literatur:
Die Verhaftung eines zum Tode Verurteilten. In: Neue Freie Presse, 7. November 1916, S. 12
Einbrecher in Wassernot. In: Linzer Volksblatt, 21. Juli 1922, S.4
Der Gelbe und die „große Hack´n“. In: Freiheit!, 29. April 1931, S. 4, und 30. April 1931, S. 4
Zwei der aus Stein entsprungenen Verbrecher verhaftet. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 5. Oktober 1928, S. 4
Wir sind ehrlos und können nicht beleidigen. In: Illustrierte Kronen Zeitung, 7. Oktober 1928, S. 8


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 7-8/2023

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