100 Jahre Interpol (4)

Interpol von 1956 bis heute

Bei der 25. Generalversammlung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission 1956 in Wien wurden die Weichen für die Zukunft gestellt. Die Statuten wurden überarbeitet und der Name in „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation“ (IKPO-Interpol) geändert. Heute gehören 195 Länder der Interpol an.

Zentrale des Interpol-Generalsekretariats: Saint Cloud (1966 bis 1989) und Lyon, Frankreich (seit 1989)
Zentrale des Interpol-Generalsekretariats: Saint Cloud (1966 bis 1989) und Lyon, Frankreich (seit 1989) © IKPO/Interpol

Zehn Jahre nach der Wiedergründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPO) 1946 in Brüssel tagten die Delegierten der Generalversammlung 1956 erstmals wieder in Wien. Im Jahr davor war das 50. Mitgliedsland der IKPK beigetreten. Bei der 25. Generalversammlung vom 7. bis zum 13. Juni 1956 in Wien wurden die Weichen für die Zukunft gestellt. Die Statuten wurden überarbeitet und den Bedingungen für eine effiziente internationale Polizeizusammenarbeit angepasst. Die neuen Statuten sind – von geringfügigen Änderungen abgesehen – heute noch gültig. Der Name der Organisation wurde geändert in „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation“ (IKPO-Interpol), französisch „L’Organisation Internationale de Police Criminelle“ und englisch „The International Criminal Police Organisation“. Das ursprünglich nur für Telegramme und andere postalische Zwecke gedachte Kürzel „Interpol“ wurde zur Bezeichnung für die Organisation.
1962 erwarb die IKPO-Interpol im Pariser Vorort Saint-Cloud ein Grundstück, auf dem ein Gebäude für das Generalsekretariat errichtet wurde. 1966 wurde die neue Zentrale bezogen. Die Funkzentrale befand sich ab 1969 auf einem 40 Hektar großen Grundstück etwa 100 Kilometer von Paris entfernt. 1967 erhöhte sich die Zahl der IKPO-Mitgliedsländer auf 100.
1968 wurde mit Paul Dickopf, Präsident des deutschen Bundeskriminalamts (BKA), erstmals seit der nationalsozialistischen Diktatur wieder ein Deutscher zum Interpol-Präsidenten gewählt. Dickopf war im Deutschen Reich Kriminalpolizist, Mitglied der SS und in der Abwehr tätig. Gegen Kriegsende war er Doppelagent für die CIA und die deutsche Abwehr. Nach dem Krieg wurde er mit dem Aufbau des BKA betraut. Ein Historikerteam, das die Geschichte des BKA Jahrzehnte später aufarbeitete, kam zum Ergebnis, dass Dickopf ehemalige SS-Angehörige und andere Nazis in das BKA geholt hatte. Der Historiker Dieter Schenk schrieb, Dickopf habe das BKA zu einer „Versorgungsanstalt für alte Nazis und Verbrecher“ gemacht. Die Konzepte des Nationalsozialismus zu Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung seien durch Dickopf und seine Mitarbeiter im BKA fortgeführt worden.
1973 tagte die Generalversammlung anlässlich „50 Jahre Interpol“ neuerlich in Wien. Herbert Fuchs, Jurist im Innenministerium, wurde mit der Organisation des Treffens vom 2. bis 8. Jänner 1973 in der Wiener Hofburg beauftragt. Bei dieser Tagung wurden elf Resolutionen vorgelegt. Sie betrafen die Drogenbekämpfung, Prävention und Behandlung von Süchtigen, Verstöße gegen internationale Interessen, Straftaten gegen die Zivilluftfahrt, die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Büros und ausländischen Missionen, den Handel und Betrug mit Reisepässen und internationalen Dokumenten, die Überwachung internationaler Straftäter sowie Falschmünzerei. Mit Rumänien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den Bahamas wurden drei weitere Mitglieder aufgenommen; die Zahl der Mitgliedstaaten stieg auf 117.
1986 verübten Terroristen der „Action directe“ einen Anschlag auf das Gebäude des Generalsekretariats in Saint-Cloud; ein Polizist wurde verletzt. 1989 zog das Generalsekretariat in das neu errichtete Interpol-Gebäude in Lyon, Frankreich. Seit 1996 hat Interpol Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen und seit Herbst 2004 gibt es bei den Vereinten Nationen in New York ein Interpol-Verbindungsbüro.
Interpol ist in vier Regionalzonen aufgeteilt: Afrika, Amerika, Asien/Ozeanien und Europa. Jede Regionalzone richtet eine Regionalkonferenz aus, die vor allem regionalspezifische Themen behandelt. Wesentliche Punkte werden der Generalversammlung mitgeteilt. Die erste Frau im Interpol-Präsidentenamt war die Französin Mireille Ballestrazzi. Sie amtierte von 2012 bis 2016.
2022 beschloss die Generalversammlung, einen internationalen Tag der Polizeikooperation festzulegen, und zwar den 7. September, den Gründungstag von Interpol.

„50 Jahre Interpol“: Jubiläums-Generalversammlung 1973 in Wien; Eröffnungszeremonie mit Bundespräsident Franz Jonas
„50 Jahre Interpol“: Jubiläums-Generalversammlung 1973 in Wien; Eröffnungszeremonie mit Bundespräsident Franz Jonas © BMI/Archiv Herbert Fuchs

IGCI Singapur.

Im April 2015 wurde der „Interpol Global Complex for Innovation“ (IGCI) in Singapur eröffnet. Kernaufgaben sind Unterstützung bei Ermittlungen zu Cyber-Kriminalität und digitaler Forensik; strategische Trendanalysen zu Innovation, Forschung und digitaler Sicherheit; Aufbau polizeilicher Kapazitäten und Ausbildung; sowie operative Unterstützung mit globaler Reichweite rund um die Uhr. Der IGCI bietet auch Unterstützung bzw. Koordination bei Ermittlungen im asiatischen Raum an.

Ziele und Schwerpunkte.

Das Hauptziel von Interpol ist die möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller Polizeibehörden im Rahmen der national geltenden Gesetze. Die Zusammenarbeit erfolgt „im Geiste der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte“ und unterliegt dem Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen Überzeugung oder anderer Kriterien. Der Gleichheitsgrundsatz und das Prinzip der Unschuldsvermutung müssen beachtet werden. Terroristische Straftaten werden nicht als politische, sondern als Delikte des allgemeinen Strafrechts qualifiziert. Interpol unterstützt auch Einrichtungen zur Kriminalprävention. Ein weiteres wesentliches Ziel ist die Schaffung und der Ausbau von Einrichtungen, die zur Verhütung und Bekämpfung von Verbrechen beitragen.
Die Strafverfolgung erfolgt in jedem Mitgliedsland ausgerichtet an den Exekutivbefugnissen, die das jeweilige nationale Strafverfahrensrecht zulässt. Interpol ist keine operative Einrichtung und hat daher auch keine eigenen „Exekutivorgane“. Die Souveränität der Mitgliedstaaten bleibt gewahrt; Interpol-Mitarbeiter eines Landes haben in einem anderen Land keine Exekutivrechte.
Schwerpunkte von Interpol sind die Verbesserung der Polizeikooperation bei der Bekämpfung des Terrorismus, der organisierten Kriminalität (inkl. neuer Formen) und der Internetkriminalität.

Dienstleistungen und Datenbanken.

„Most wanted“: Interpol-Fahndungsplakat für gestohlene Kunstwerke
„Most wanted“: Interpol-Fahndungsplakat für gestohlene
Kunstwerke © IKPO/Interpol

Interpol bietet den 195 Mitgliedstaaten verschiedene Dienstleistungen an. Auf Ersuchen eines Mitgliedstaats stellt das Interpol-Generalsekretariat in Lyon Expertenteams zusammen, etwa zur Identifizierung von Katastrophenopfern. Interpol gibt Fahndungsausschreibungen heraus, führt Kriminalakten, Sammlungen und Dateien, erstellt Lagebilder und führt Analyseprojekte durch. Dazu kommen Konferenzen und Arbeitstagungen.
Die Organisation betreibt eine Reihe von Datenbanken, etwa für gestohlene Kunstwerke, Kraftfahrzeuge und Reisedokumente. Eine weitere Dienstleistung ist die Weiterbildung für Polizeibeamte. Die Kommunikation mit den Mitgliedstaaten erfolgt seit 2002 über das verschlüsselte Netz I-24/7. 2004 ging die Interpol-DNA-Datenbank in Betrieb.

Organe der IKPO-Interpol sind die Generalversammlung, das Exekutivkomitee, der Präsident und das Generalsekretariat. Die Generalversammlung ist das oberste Verwaltungsgremium und setzt sich aus je einem Delegierten aus jedem Mitgliedstaat zusammen. Hier werden alle wesentlichen strategischen und operativen Entscheidungen getroffen. Bei Abstimmungen ist eine einfache Mehrheit ausreichend. Bei Änderungen der Interpol-Verfassung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig. Die Generalversammlung tritt mindestens einmal im Jahr zusammen.
Das Exekutivkomitee ist das Überwachungsgremium für die Umsetzung der Entscheidungen der Generalversammlung und der Administration des Generalsekretariats. Das Exekutivkomitee tagt dreimal jährlich. Die Delegierten bereiten die Tagesordnungen für die Tagungen der Generalversammlung vor und unterbreiten ihr alle Arbeitsprogramme und Vorschläge. Mitglieder des Komitees sind der Präsident, drei Vizepräsidenten sowie neun Delegierte aus den vier Interpol-Regionen. Der Präsident, die Vizepräsidenten und die Delegierten werden von der Generalversammlung in geheimer Wahl bestimmt. Der Präsident wird für vier Jahre, die Vizepräsidenten und die Delegierten werden für drei Jahre gewählt. Diese Funktionen sind ehrenamtlich. Im November 2021 wurde Ahmed Naser Al-Raisi aus den Vereinigten Arabischen Staaten zum Interpol-Präsidenten gewählt.
Das Generalsekretariat ist Verwaltungsbehörde, kriminalpolizeiliche Nachrichtenzentrale und Informationszentrum. Der Generalsekretär wird auf Vorschlag des Exekutivkomitees für fünf Jahre gewählt. Das Mandat kann bis zum 65. Lebensjahr erneuert werden. Der Generalsekretär wählt das Personal selbst aus. Das Personal stammt aus rund 100 Mitgliedstaaten. Die Arbeitssprachen sind Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch. Der Generalsekretär ist für die Geschäftsführung und die Budget-Fragen zuständig. Er ist der Generalversammlung und dem Exekutivkomitee zur Rechenschaft verpflichtet. Generalsekretär ist seit 2014 Jürgen Stock, ehemals Vizepräsident des deutschen Bundeskriminalamts. 2024 wird ein neuer Generalsekretär gewählt.

Nationale Zentralbüros.

Mitglieder der Interpol-Organisation sind nicht die Staaten selbst, sondern deren Polizeibehörden. Die internationale Zusammenarbeit erfolgt über die nationalen Zentralbüros (National Central Bureau – NCB). Das österreichische Interpol-Landeszentralbüro ist im Bundeskriminalamt angesiedelt. Das Büro 2.4 (Interpol) gehört zur Abteilung 2 (Internationale Polizeikooperation) und wird von Mag. Rudolf Gross geleitet.

Jubiläumsgeneralversammlung 2023.

Die Interpol-Gründungsstadt Wien ist Gastgeber der Jubiläumstagung „100 Jahre Interpol“ vom 28. November bis 1. Dezember 2023 im Austria Center Vienna. Etwa 1.500 Gäste werden in der Bundeshauptstadt erwartet. Bei der Tagung entscheidet die Generalversammlung über die Aufnahme des pazifischen Inselstaats Palau als 196. IKPO/Interpol-Mitglied.

Werner Sabitzer

Quellen/Literatur:
Bellmann, Elisabeth: Die Internationale Kriminalistische Vereinigung (1889–1933). Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u. a. 1994
Bresler, Fenton: Interpol. Der Kampf gegen das internationale Verbrechen von den Anfängen bis heute. C. Bertelsmann Verlag, München 1993
Dressler, Oskar: Die Internationale kriminalpolizeiliche Kommission und ihr Werk. Hrsg. für den Dienstgebrauch von der Internationalen kriminalpolizeilichen Kommission in Berlin-Wannsee. Druck Wilhelm Santora, Wien 1942
Goldenberg, Alexei: La Commission Internationale de Police Criminelle. Diss. Universität Paris, Paris, 1953
Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation – Interpol: 50 Jahre Interpol 1923–1973 (deutsche Bearbeitung: Bundeskriminalamt Wiesbaden), Wiesbaden 1973
Jäger, Jens: Die informelle Vernetzung politischer Polizei nach 1848; in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 116 (1999), S. 266-313
Jäger, Jens: Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880-1933. UVK, Konstanz 2006
Oberhummer, Hermann: Die Wiener Polizei. 200 Jahre Sicherheit in Österreich, Band I. Wien 1938
Sabitzer, Werner: Lexikon der inneren Sicherheit (Polizeilexikon Österreich), Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien/Graz 2008
Schenk, Dieter: Die braunen Wurzeln des BKA. Fischer TB, Frankfurt am Main 2003
Siemann, Wolfram: Der „Polizeiverein“ deutscher Staaten. Eine Dokumentation zur Überwachung der Öffentlichkeit nach der Revolution von 1848/49. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Verlag Walter de Gruyter, Tübingen 1983
Siemann, Wolfram: Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Die Anfänge der politischen Polizei 1806-1866. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 14. Verlag Walter de Gruyter, Tübingen 1985
Sieverts, Rudolf et. al.: Handwörterbuch der Kriminologie. Band 4: Ergänzungsband, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 1979
Tullet, Tom: Inside Interpol. Verlag Frederick Muller, London 1963

IKPO/Interpol

Die Präsidenten

Johann Schober, Österreich (1923–1932)
Franz Brandl, Österreich (1932–1934)
Eugen Seydel, Österreich (1934–1935)
Michael Skubl, Österreich (1935–1938)
Otto Steinhäusl, Deutsches Reich (1938–1940)
Reinhard Heydrich, Deutsches Reich (1940–1942)
Arthur Nebe, Deutsches Reich (1942–1943)
Ernst Kaltenbrunner, Großdeutsches Reich (1943–1945)
Florent Louwage, Belgien (1946–1956)
Agostinho Lourenco, Portugal (1956–1960)
Sir Richard L. Jackson, Vereinigtes Königreich (1960–1963)
Fjalar Jarva, Finnland (1963–1964)
Firmin Fransen, Belgien (1964–1968)
Paul Dickopf, Deutschland (1968¬–1972)
William Leonard Higgitt, Kanada (1972–1976)
Carl G. Persson, Schweden (1976–1980)
Jolly R. Bugarin, Philippinen (1980–1984)
John R. Simpson, USA (1984–1988)
Ivan Barbot, Frankreich (1988–1992)
Norman D. Inkster, Kanada (1992–1994)
Björn Eriksson, Schweden (1994–1996)
Toshinori Kanemoto, Japan (1996–2000)
Jesus Espigares Mira, Spanien (2000–2004)
Jackie Selebi, Südafrika (2004–2008)
Khoo Boon Hui, Singapur (2008–2012)
Mireille Ballestrazzi, Frankreich (2012–2016)
Meng Hongwei, Volksrepublik China (2016–2018)
Kim Jong-yang, Südkorea (2018–2021)
Ahmed Naser Al-Raisi, Vereinigte Arabische Emirate (seit 2021)

Die Generalsekretäre

Oskar Dressler, Österreich (1923–1946)
Louis Ducloux, Frankreich (1946–1951)
Marcel Sicot, Frankreich (1951–1963)
Jean Népote, Frankreich (1963–1978)
André Bossard, Frankreich (1978–1985)
Raymond Kendall, Vereinigtes Königreich (1985–2000)
Ronald Kenneth Noble, USA (2000–2014)
Jürgen Stock, Deutschland (seit 2014)


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 11-12/2023

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