Europäische Union

Reform des Asylsystems

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) bildet den Rechtsrahmen für die Auslegung und Anwendung des Asylrechts in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Derzeit wird auf europäischer Ebene intensiv daran gearbeitet, rechtliche Aspekte des internationalen Schutzes in den Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen und das System zu optimieren.

Mit der Asylverfahrensverordnung wird in der gesamten EU ein gemeinsames Verfahren eingeführt, das die Mitgliedstaaten einhalten müssen, wenn Personen um internationalen Schutz ansuchen
Mit der Asylverfahrensverordnung wird in der gesamten EU ein gemeinsames Verfahren eingeführt, das die Mitgliedstaaten einhalten müssen, wenn Personen um internationalen Schutz ansuchen © Gerd Pachauer

Gerade in einem Raum ohne Binnengrenzen soll durch die Reform die Harmonisierung der Rechtsvorschriften und das Funktionieren des Asylsystems sichergestellt werden. Die Migrationskrise in den Jahren 2015 und 2016 führte zu einer faktischen Aussetzung der geltenden Zuständigkeitsregeln. Dies verdeutlichte, dass das bei großem Druck augenscheinlich überforderte gemeinsame Migrations- und Asylsystem dringend einer weiteren Überarbeitung bedarf.
Um zukünftig solche Drucksituationen bestmöglich im Voraus zu verhindern bzw. bewältigen zu können, wurde von der Europäischen Union ein weitreichender Reformprozess mit neuen Legislativvorschlägen eingeleitet, der das GEAS fairer, robuster und effizienter gestalten sollte.
Die Verhandlungen zu dieser Reform gingen stockend voran. Nachdem im Juni 2018 im Rat keine politische Einigung über die Gesamtreform des GEAS erreicht werden konnte, legte die Europäische Kommission 2020 das Paket für Asyl und Migration vor, das die Aspekte Zuständigkeit, Solidarität und Migrationssteuerung neu gestalten sollte. Die Vorschläge dieses Pakts bilden im Wesentlichen die Grundlagen für die derzeitigen Verhandlungen und stellen die Spitze einer langen Entwicklung an Rechtsakten im europäischen Asylrecht dar. So soll beispielsweise die Dublin-III-Verordnung in der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung, die erstmals auch einen umfassenden Solidaritätsmechanismus beinhaltet, aufgehen. Das Asylverfahrensrecht soll nunmehr unmittelbar in Form einer Verordnung geregelt werden. Neu ist, wenngleich formell nicht Teil des GEAS-Pakets, der Vorschlag zur Screening-Verordnung, der vorsieht, dass alle neu ankommende Drittstaatsangehörige bereits an den Außengrenzen einer Vorprüfung unterzogen werden, die neben der Identitätsfeststellung auch Feststellungen zu Gesundheit, Vulnerabilitäten und Sicherheitsrisiken sowie die Registrierung biometrischer Daten umfasst. Diese Überprüfung soll zukünftig den ersten Schritt im gesamten Asyl- und Rückführungssystem darstellen und zur Effektivitätssteigerung der nachfolgenden Verfahren beitragen.

Europäischer Solidaritätsmechanismus.

Eine weitere wesentliche Errungenschaft der Reform soll die erstmalige Einführung eines europäischen Solidaritätsmechanismus sein. Hier wurde ein flexibles aber verpflichtendes System entwickelt, bei dem Unterstützungsleistungen für Mitgliedstaaten unter großem Migrationsdruck – den die Europäische Kommission feststellt – wahlweise durch Relokationen von Asylwerberinnen und Asylwerbern, finanzielle Leistungen und alternative Solidaritätsleistungen erbracht werden können. Kein Mitgliedstaat kann jedoch zu Relokationen verpflichtet werden. Dies bedeutet, dass im Falle von starkem Migrationsdruck, wie etwa in den Jahren 2015/16 oder 2022, auch Österreich ein begünstigter Mitgliedstaat werden könnte, der von Solidaritätsleistungen anderer Mitgliedstaaten profitiert. Auch wird Vorbelastungen insofern Rechnung getragen, als langfristig stark belastete Mitgliedstaaten von der Pflicht zur Leistung von Solidaritätsleistungen auf eigenen Antrag hin ausgenommen werden können.
Positiv ist im Hinblick auf aktuelle Systemschwächen festzuhalten, dass es Solidaritätsleistungen zukünftig nur für Mitgliedstaaten geben soll, die keine systematischen Mängel in ihrem Asylsystem aufweisen. Dies sollte Anreiz für alle Mitgliedstaaten sein, ihre nationalen Systeme entsprechend aufzustellen und alle geltenden Regeln vollständig und somit auch menschenrechtskonform umzusetzen.

Verpflichtende Grenzverfahren.

Neu ankommende Drittstaatsangehörige sollen bereits an den Außengrenzen einer Vorprüfung unterzogen werden
Neu ankommende Drittstaatsangehörige sollen bereits an
den Außengrenzen einer Vorprüfung unterzogen werden
© Gerd Pachauer

Neu ist auch das verpflichtende Grenzverfahren in der Verfahrens-Verordnung, das nach irregulärem Grenzübertritt oder nach Seenotrettung in bestimmten Fällen an der Außengrenze der Union geführt werden soll. Verpflichtend soll das Grenzverfahren etwa dann sein, wenn Asylwerberinnen und Asylwerber aus einem Herkunftsstaat mit einer Anerkennungswahrscheinlichkeit von unter 20 Prozent kommen, ein Sicherheitsrisiko darstellen oder die Behörden getäuscht haben.
Dieses Verfahren wurde nach der Einigung des Rates im Juni 2023 durch jährliche Obergrenzen limitiert. Neben einer Grundkapazität von 30.000 gleichzeitig laufenden Grenzverfahren soll es eine jährliche Obergrenze von insgesamt 120.000 Grenzverfahren in der EU geben, die stufenweise eingeführt werden soll.

Krisenfälle.

Dazu erfolgen derzeit Verhandlungen zu einer Verordnung für Krisenfälle, die auch im Falle der Instrumentalisierung von Migrantinnen und Migranten durch externe Akteure zur Anwendung kommen soll. Für im Krisenfall unmittelbar betroffene Staaten sollen demnach vorübergehend besondere Verfahrensregeln gelten und ein eigener Solidaritätsmechanismus zur Anwendung kommen. Durch diese Sonderregeln sollen in erster Linie die betroffenen Mitgliedstaaten unterstützt werden. Konkrete Maßnahmen zur Beendigung einer Krise sind im vorläufigen Rechtstext hingegen nicht enthalten.

Mit der Einigung zur Asyl- und Migrationsmanagements-Verordnung und Asylverfahrens-Verordnung auf Ratsebene konnte ein wichtiger Schritt bei der Reform des GEAS gemacht werden. Alle Neuerungen müssen vor dem Hintergrund verstanden werden, dass die Verhandlungen hierzu nicht abgeschlossen sind. Die beiden genannten elementaren Verordnungen sind nun Gegenstand des Trilogs – also der Verhandlungen zwischen den gesetzgebenden europäischen Institutionen Kommission, Rat und Parlament. Aufgrund teilweise nach wie vor stark unterschiedlicher Positionen wird es eine Herausforderung darstellen, diese Verhandlung zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen, der auch in den finalen Rechtstexten eine substanzielle Veränderung mit sich bringt. Dies muss in Anbetracht der vorangegangenen Jahre langsamen Fortschritts nun auch schnell gelingen, da das Ziel eine Annahme des Gesamtpakets noch vor Ende der Legislaturperiode 2024 ist.

Die Umsetzung der neuen Regeln wird die Behörden der Mitgliedstaaten wie auch die Europäische Kommission vor Herausforderungen stellen. Die Prozesse zur Feststellung von Migrationsdruck und der daran anknüpfende Solidaritätsmechanismus sind rechtlich von einer im GEAS noch nicht dagewesenen Komplexität und bedürfen eines hohen administrativen Aufwands.
Ebenso sind die praktischen Auswirkungen des Grenzverfahrens sowie der Ausnahmetatbestände der angesprochenen Krisen-Verordnung auf das Gesamtsystem schwer abzuschätzen. Die Praxistauglichkeit des neuen Regelwerks wird somit erst unter Beweis zu stellen sein. Es liegt nun an den beteiligten europäischen Institutionen in den laufenden Verhandlungen rasch und konstruktiv gemeinsame Regeln zu finalisieren, die auch wirklich eine nachhaltige und in der Praxis greifbare Verbesserung des Systems bewirken.

Nikolaus Nöhrer
Andreas Pongratz

GEAS

Entwicklung

  • 1999 – 2004 | Erste Phase des GEAS: Asyl und Einwanderung in supranationale Zuständigkeit der EU und Schaffung gemeinsamer Mindestnormen
  • 2009 – 2013 | Zweite Phase des GEAS: Neufassung der aktuellen Verfahrens-, Status- und Aufnahme-RL sowie der Dublin- und EURODAC-VO
  • ab 2016 | aktueller Reformprozesses: Weitreichende Überarbeitung des GEAS angestrebt
  • 2020 | Migrations- und Asylpaket: Zahlreiche Neuvorschläge der Europäischen Kommission u. a. zu Asyl- und Migrationsmanagement-VO, Verfahrens-VO, Screening-VO, EURO DAC-VO und Krisen-VO.

Aktueller Stand der Reform

  • Juni 2022: Ratseinigung zur Eurodac- und Screening-VO
  • Dezember 2022: Ratseinigung zur Resettlement-VO, Status-VO und Aufnahme-RL
  • Juni 2023: Ratseinigung zur Asylverfahrens- sowie Asyl- und Migrationsmanagement-VO, Beginn des Trilogs (Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament)
  • Oktober 2023: Ratseinigung zur Krisen-VO

Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 11-12/2023

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