Tag der Kriminalitätsopfer 2023

Situative Gewalt

Seit 33 Jahren wird der europäische Tag der Kriminalitätsopfer begangen. Am 21. Februar 2023 luden Innenministerium und Weisser Ring zum 13. Mal aus diesem Anlass zu einem Symposium ein. Das Phänomen der situativen Gewalt wurde im Rahmen von Fachvorträgen und einer Podiumsdiskussion beleuchtet.

Tag der Kriminalitätsopfer: Justizministerin Alma Zadic, Udo Jesionek, Präsident des Weissen Rings, Innenminister Gerhard Karner
Tag der Kriminalitätsopfer: Justizministerin Alma Zadic, Udo
Jesionek, Präsident des Weissen Rings, Innenminister
Gerhard Karner © Jürgen Makowecz

Das Innenministerium und die Verbrechensopferhilfe Weisser Ring luden am 21. Februar 2023 zum 13. Tag der Kriminalitätsopfer. Das diesjährige Thema war „Situative Gewalt – eine besondere Herausforderung in der Opferhilfe“. Die Veranstalter hatten sich das Ziel gesetzt, das Phänomen der situativen Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und besser greifbar zu machen.
Gastgeber Innenminister Gerhard Karner begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und hob hervor: „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Gewalt durch Prävention und Sensibilisierung verhindern können, aber auch, wie es möglich ist, Opfer besser betreuen und begleiten zu können.“
Udo Jesionek, Präsident Weisser Ring, drängte darauf, Opfer situativer Gewalt rasch und umfassend über ihre Rechte sowie die Möglichkeiten kostenloser Opferhilfe aufzuklären und den Zugang zu diesen Leistungen zu verbessern.
Justizministerin Alma Zadic betonte: „Wir müssen weiterhin alles dafür tun, dass Betroffene von Gewalt mit dieser schwierigen Situation nicht allein sind und die nötige Unterstützung bekommen.“

„Ich wurde Opfer!“ Zur Einstimmung auf das Thema trug Schauspielerin Dessi Urumova Texte mit Erlebnissen von Opfern situativer Gewalt vor.

Was ist Gewalt?

Wer eine allgemein gültige Begriffsdefinition erwartet hatte, wurde enttäuscht. Lyane Sautner, Leiterin der Abteilung für Strafrecht und Rechtspsychologie an der Johannes Kepler Universität Linz (JKU) hielt fest, dass kein interdisziplinärer Gewaltbegriff existiert. Nach einer Einführung zum Gewaltbegriff in der Soziologie, der eng mit den Begriffen Macht und Herrschaft verknüpft ist, beleuchtete sie die Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs. Im österreichischen Strafgesetzbuch wird Gewalt als etwas Körperliches verstanden.

Artikel 33 der Istanbul-Konvention definiert psychische Gewalt als „vorsätzliches Verhalten, durch das die psychische Unversehrtheit einer Person durch Nötigung oder Drohung ernsthaft beeinträchtigt wird“ und verlangt, dieses unter Strafe zu stellen. Das österreichische Strafgesetzbuch hält mit der Nötigung (§ 105), der gefährlichen Drohung (§ 107) und weiteren Delikten entsprechende Tatbestände bereit.

Häusliche Gewalt umfasst alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte (Istanbul-Konvention Artikel 3 lit b).

Situativer Gewalt fehlt diese persönliche Nähe. In der Kriminalstatistik wird die soziale Nähe daran gemessen, ob es vor der Tat eine Beziehung zwischen Täterin oder Täter und Opfer gab und wie diese aussah.

Anteil situativer Gewalt höher als erwartet.

Helmut Hirtenlehner, ebenfalls von der JKU Linz, beschäftigte sich in seinem Vortrag „Gewalt in Österreich aus kriminologischer Perspektive“ mit der Verbreitung und Entstehung situativer Gewalt. Ausgehend von der in der Viktimologie gängigen Hypothese, dass Gewalt ein Beziehungsdelikt sei, analysierte er Hellfeld- und Dunkelfelddaten. Im Hellfeld steht die österreichische Kriminalstatistik zur Verfügung. Da, wie Helmut Hirtenlehner ausführte, die kriminologische Datenlage in Österreich enttäuschend schmal und unbefriedigend ist, zog er für die Betrachtung des Dunkelfelds zwei repräsentative deutsche Studien heran. Die Analyse der Daten ergab, dass der Anteil situativer Gewalt an der insgesamt ausgeübten Gewalt weitaus höher ist, als bisher angenommen. Das gilt sowohl im Hellfeld als auch im Dunkelfeld. Auch wenn man Verzerrungen, die durch die jeweiligen Formen der Datenerhebung zu erwarten sind, mit berücksichtigt, bleibt der Anteil der situativen Gewalt wesentlich höher als erwartet. So liegt der Anteil der vorher unbekannten Täterinnen und Täter bei Raub laut DVS 2017 bei 70 Prozent. Zählt man jene dazu, die vom Sehen bekannt waren, sind es 87 Prozent. Dieselben Werte liegen bei Körperverletzung bei 48 bzw. 62 Prozent.

Fehlen Schutzmaßnahmen für Opfer situativer Gewalt?

Kriminalitätsopfertag – Podiumsdiskussion: Salih Seferovic, Verein für Deradikalisierung und Extremismusprävention, Yvonne Rychly, Gewerkschaft vida, Benjamin Nägele, Israelitische Kultusgemeinde Wien, Tobias Körtner, Weisser Ring, Anne- Sophie Otte, Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien, Brigitta Pongratz, Weisser Ring
Kriminalitätsopfertag – Podiumsdiskussion: Salih Seferovic,
Verein für Deradikalisierung und Extremismusprävention,
Yvonne Rychly, Gewerkschaft vida, Benjamin Nägele,
Israelitische Kultusgemeinde Wien, Tobias Körtner, Weisser
Ring, Anne- Sophie Otte, Homosexuellen Initiative (HOSI)
Wien, Brigitta Pongratz, Weisser Ring © Bernhard Elbe

In ihrem Vortrag „Situative Gewalt versus Gewalt im sozialen Nahbereich“ nahmen Nina Lepuschitz und Walter Dillinger eine Abgrenzung zwischen Gewalt in der Privatsphäre (GiP) und situativer Gewalt vor: Der Fokus der Gewaltschutzgesetzgebung lag sowohl 1997 als auch 2009 und 2019 auf Gewalt in der Privatsphäre. Dennoch kann festgehalten werden, dass es umfangreiche Opferrechte für Opfer aller Formen von Gewalt gibt. Für beide Gewaltformen stellen sich grundsätzlich die gleichen strafprozessualen und sicherheitspolizeilichen Aufgaben. Auch sicherheitspolizeiliche Fallkonferenzen sind für alle Formen von Gewalt möglich. Während allerdings in Fällen von GiP ein Betretungs- und Annäherungsverbot gemäß § 38a Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) zum Schutz einer gefährdeten Person verhängt werden kann, gibt es keine vergleichbare Schutzmaßnahme im Bereich situativer Gewalt. Im Jahr 2022 wurden österreichweit 14.643 Betretungs- und Annäherungsverbote verhängt.
Es handelt sich hier um eine niederschwellige Maßnahme, die bereits angeordnet werden kann, wenn die Schwelle zur Straftat (z. B. Körperverletzung) noch nicht überschritten wurde, aber aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass ein gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in einer Wohnung, begangen werden könnte. Von einer solchen Maßnahme werden insbesondere das Gewaltschutzzentrum und die Beratungsstelle für Gewaltprävention durch Übermittlung der polizeilichen Dokumentation der Maßnahme verständigt. Ein analoger Ablauf existiert für Opfer situativer Gewalt nicht.
Walter Dillinger hielt fest: „Die österreichische Rechtsordnung hat Gewaltopfern umfassende Rechte eingeräumt, wobei die Information über diese Rechte (§ 70 StPO) in fast allen Fällen zuerst durch die Polizei erfolgt.“
Da bei situativer Gewalt keine Datenübermittlung an die zuständige Opferhilfe-Einrichtung vorgesehen ist, sei es hier besonders wichtig, dass die Polizei Opfer in Erfüllung des gesetzlichen Informationsauftrags gemäß § 14 Verbrechensopfergesetz (VOG) informiere, damit diese Opfer die umfassenden Betreuungsangebote auch in Anspruch nehmen können.
Nina Lepuschitz stellte mit ODARA (Ontario Domestic Assault Risk Assessment) ein validiertes Tool vor, das in Wien in Fällen von Partnergewalt zusätzlich zur objektiven Risikoeinschätzung eingesetzt wird.

Situative Gewalt – ein einmaliges, traumatisierendes Erlebnis.

In seinem Vortrag „Situative Gewalt und Opferhilfe“ beleuchtete Tobias Körtner vom Weissen Ring das Phänomen der situativen Gewalt aus Sicht der Praxis in der Opferhilfe. Dabei stellte er anhand von Fallbeispielen die große Bandbreite an unterschiedlichen Delikten dar und identifizierte die Auswirkungen situativer Gewalt sowie spezifische Besonderheiten in der Opferhilfearbeit.
„Das Feld situativer Gewalt umfasst eine riesige Bandbreite an Delikten und Spezialbereichen, vom Handtaschenraub über Körperverletzungen in Diskotheken bis hin zu Terror oder Hasskriminalität. Von situativer Gewalt Betroffene kommen aus sämtlichen Alters-, Geschlechts- und Gesellschaftsgruppen. Wie für Opfer anderer Gewaltformen steht auch für Opfer situativer Gewalt das Bedürfnis nach Anerkennung des erlittenen Unrechts und nach Wiedergutmachung im Vordergrund. Da keine Weiterleitung der Daten durch die Polizei stattfindet, sind Opfer situativer Gewalt zumeist in sehr hohem Maße auf sich selbst und ihre Eigeninitiative angewiesen, wenn es darum geht Opferhilfe aufzusuchen“, sagte Körtner. Er hielt fest, dass es an ausreichenden wissenschaftlichen Daten zu situativer Gewalt fehlt. „Opfer von situativer Gewalt zu werden bedeutet, von einer meist fremden Person verletzt oder bedroht zu werden“, sagte Körtner. „Diese überraschende, bedrohliche Situation reißt die Betroffenen aus ihrer Sicherheit und löst oft langfristige Ängste aus.“ Im Vergleich zu Gewalt im sozialen Nahraum besteht eine gänzlich andere Dynamik zwischen Täter und Opfer. Oft sind die Täterinnen und Täter unbekannt und müssen erst ausgeforscht werden. Die Wartezeit, bis das gelingt, wird von Betroffenen zumeist als besonders belastend empfunden. Der Wunsch, das Geschehene hinter sich zu lassen und damit abzuschließen, wird groß und scheint unerfüllbar. Andererseits kommt es bei Opfern situativer Gewalt kaum vor, dass sie nicht gegen die Täterinnen und Täter aussagen, wenn diese gefasst werden.

Situative Gewalt und Hasskriminalität.

Den Abschluss der Fachveranstaltung bildete ein Panel zum Thema „Situative Gewalt und Hasskriminalität“. Denn vorurteilsmotivierte Delikte spielen sich zumeist zwischen Menschen ab, die keine persönliche Beziehung verbindet und sind damit ein Teilbereich situativer Gewalt. Die zentralen Vorurteilsmotive, die seit 1. November 2020 bei Anzeigen von der Polizei erfasst werden, sind Alter, Behinderung, Geschlecht, Hautfarbe, nationale/ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung, sozialer Status und Weltanschauung. Der Weisse Ring hatte Vertreterinnen und Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde, der LGBTIQ-Interessensvertretung HOSI, der Gewerkschaft vida sowie des Vereins DERAD eingeladen.

Brigitta Pongratz


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 11-12/2023

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