100 Jahre Interpol

Globale Sicherheitsarchitektur

Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der ICPO/Interpol wurde die Generalversammlung 2023 wieder in der Interpol-Gründungsstadt Wien abgehalten. Es handelte sich um die bisher größte Tagung der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation.

100 JAHRE INTERPOL: 1.200 Delegierte nahmen an der Jubiläumsgeneralversammlung 2023 der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation in der Interpol-Gründungsstadt Wien teil
100 JAHRE INTERPOL: 1.200 Delegierte nahmen an der Jubiläumsgeneralversammlung 2023 der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation in der Interpol-Gründungsstadt Wien teil © Jürgen Makowecz

Rund 1.400 Delegierte, Regierungsvertreter und Gäste aus 161 Interpol-Mitgliedsländern, darunter fünf ehemalige Interpol-Präsidenten, kamen zur 91. Generalversammlung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (ICPO/Interpol) vom 28. November bis 1. Dezember 2023 ins Austria Center Vienna. Bei der größten bisher abgehaltenen Interpol-Generalversammlung wurde das 100-jährige Bestandsjubiläum der Organisation gefeiert, die im September 1923 als „Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission“ in Wien gegründet worden ist.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen grenzüberschreitende Kriminalitätsformen zu, wie Mädchenhandel, Drogenschmuggel und Betrug. Beim 1. internationalen kriminalpolizeilichen Kongress im April 1914 in Monaco beschlossen die Delegierten die Einrichtung einer gemeinsamen Institution, zuständig für die Zentralisierung von Auskünften und die Unterstützung der Polizeibehörden aller Länder. Zum geplanten Folgekongress im August 1916 in Bukarest kam es wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht mehr.
Der Durchbruch erfolgte beim 2. internationalen Polizeikongress vom 3. bis 7. September 1923 in Wien, zu dem Wiens Polizeipräsident Johann Schober eingeladen hatte. Schwerpunkte waren die zwischenstaatliche Amtshilfe der Sicherheitsbehörden, die Bekämpfung des internationalen Verbrechertums sowie die Auslieferung und Abschiebung von Kriminellen. Am 7. September 1923 beschlossen die Delegierten aus 20 Staaten die Einrichtung der „Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Wien“ (IKPK). Hauptzweck war die „Verbürgung und Ausgestaltung gegenseitiger weitestgehender Amtshilfe aller Sicherheitsbehörden im Rahmen der in den einzelnen Staaten bestehenden Gesetze“ sowie „die Sorge für die Schaffung und Ausgestaltung aller Einrichtungen, welche geeignet sind, den Kampf gegen das gemeine Verbrechertum erfolgreich zu gestalten“. In der Geschäftsordnung wurden zwei Prinzipien verankert, die im Wesentlichen noch heute gültig sind – der Vorbehalt des nationalen Rechts und die Beschränkung der Zusammenarbeit auf Delikte des Strafrechts. Sitz der IKPK war Wien. In der Polizeidirektion wurde ein „Internationales Büro“ eingerichtet. Johann Schober wurde Präsident und der Polizeijurist Oskar Dressler Sekretär der neuen Organisation. Offizielle Sprache war Französisch, man verständigte sich auch in Deutsch, Englisch und Italienisch. Dressler gab ab 1925 die viersprachige IKPK-Publikation „International Public Safety/Internationale Öffentliche Sicherheit“ heraus. Veröffentlicht wurden Haftbefehle, die Beschreibung von gefahndeten Rechtsbrechern und unbekannten Toten, Verzeichnisse gestohlener Gegenstände sowie Beiträge über die Organisation und Arbeit der IKPK. Ab 1925 entstanden in den Mitgliedsländern nach und nach Nationale Zentralbüros (NZB) als Schnittstellen zum Generalsekretariat in Wien und zu den anderen Landeszentralbüros. 1932 wurde mit einer Änderung der Statuten das Amt des „Generalsekretärs“ geschaffen, das der bisherige Sekretär Oskar Dressler übernahm. Dressler richtete die erste internationale kriminalpolizeiliche Informationssammlung ein.

IKPK in der NS-Diktatur.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 übernahmen die Nationalsozialisten die IKPK. Oskar Dressler arrangierte sich mit den Nazis und durfte IKPK-Generalsekretär bleiben. Der kommissarische Wiener Polizeipräsident Otto Steinhäusl wurde neuer Präsident der IKPK. Im Juni 1940 wurde die IKPK-Zentrale nach Berlin verlegt. Reinhard Heydrich, Stellvertreter des Reichsführers-SS und Chefs der deutschen Polizei Heinrich Himmler, wurde Interpol-Präsident. In Berlin wurde ein „Internationales Büro“ eingerichtet, geleitet von Artur Nebe, dem Direktor des Reichskriminalpolizeiamts. Heydrich setzte SS-Standartenführer Karl Zindel als seinen „Sonderbeauftragten“ für die IKPK ein. Nach der Ermordung Heydrichs im September 1942 wurde Arthur Nebe mit der Wahrnehmung der Geschäfte des IKPK-Präsidenten beauftragt. Im Jänner 1943 wurde Ernst Kaltenbrunner IKPK-Präsident. Im Frühjahr 1945 kam die Tätigkeit der Kommission zum Erliegen.

Wiedergründung 1946.

Innenminister Gerhard Karner und BK-Direktor Andreas Holzer
Innenminister Gerhard Karner und BK-Direktor Andreas
Holzer © Gerd Pachauer

Bei der von Belgiens Sicherheits-Generalinspekteur Florent E. Louwage initiierten Polizeikonferenz vom 6. bis 9. Juni 1946 in Brüssel wurde die IKPK rekonstituiert. Die Delegierten aus 17 Staaten beschlossen neue Statuten. Louwage wurde Präsident und der Franzose Louis Ducloux Generalsekretär. Neuer Sitz wurde Paris. Die Telegrammadresse lautete „Interpol“, das Kurzwort für „International Police“.
Österreich trat der Interpol im Dezember 1947 wieder bei. 1949 erhielt die Kommission den Status einer beratenden Organisation der UNO. Bei der 25. Generalversammlung der IKPK 1956 in Wien beschlossen die Delegierten eine Neufassung der Statuten. Sie sind großteils noch heute gültig. Die Kommission erhielt die neue Bezeichnung „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation – IKPO/Interpol“. Der Name „Interpol“ wurde zur gebräuchlichen Bezeichnung für die Organisation.
1966 bezog das Generalsekretariat die neue Zentrale im Pariser Vorort Saint-Cloud. 1967 erhöhte sich die Zahl der Mitgliedsländer auf 100. 1989 bezog das Generalsekretariat das neue Gebäude in Lyon.
Seit 1996 hat Interpol Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen und seit Herbst 2004 gibt es bei den Vereinten Nationen in New York ein Interpol-Verbindungsbüro.

Jubiläums-Generalversammlung 2023 der Interpol im Austria Center Vienna
Jubiläums-Generalversammlung 2023 der Interpol im Austria
Center Vienna © Gerd Pachauer

Hauptziel von Interpol ist die möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller Polizeibehörden im Rahmen der national geltenden Gesetze und im Geiste der UN-Menschenrechtscharta. Die Zusammenarbeit unterliegt dem Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen Überzeugung oder anderer Kriterien. Es gelten der Gleichheitsgrundsatz und das Prinzip der Unschuldsvermutung. Interpol ist keine „operationelle“ Einrichtung und hat keine eigenen Exekutivorgane. Die Strafverfolgung erfolgt in jedem Mitgliedsland nach deren Exekutivbefugnissen.
Schwerpunkte sind die Verbesserung der Polizeikooperation bei der Bekämpfung des Terrorismus, der organisierten Kriminalität und der Internetkriminalität. Interpol gibt Fahndungsausschreibungen heraus, führt Kriminalakten, Sammlungen und Dateien, erstellt Lagebilder und organisiert Analyseprojekte. Es gibt Konferenzen und Arbeitstagungen. Interpol stellt Expertenteams zusammen, etwa zur Identifizierung von Katastrophenopfern, und betreibt 19 Datenbanken, etwa für gestohlene Kunstwerke, Kraftfahrzeuge und Reisedokumente. Die Kommunikation mit den Mitgliedstaaten erfolgt seit 2002 über das verschlüsselte Netz I-24/7.
Organe der Interpol sind die Generalversammlung, das Exekutivkomitee, der Präsident und das Generalsekretariat. Generalsekretär ist seit 2014 Jürgen Stock (Deutschland). In der Generalversammlung werden alle wesentlichen strategischen und operativen Entscheidungen getroffen. Im November 2021 wurde Ahmed Naser Al-Raisi aus den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Interpol-Präsidenten gewählt.
Im April 2015 wurde der Interpol Global Complex for Innovation (IGCI) in Singapur eröffnet.

Jubiläumsgeneralversammlung 2023.

Eröffnungsansprache: Bundeskanzler Karl Nehammer
Eröffnungsansprache: Bundeskanzler Karl Nehammer
© Dragan Tatic

Organisierte Kriminalität (OK) und Terrorismus hätten zu einem „globalen Sicherheitsnotstand“ geführt, warnte Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock bei einer Pressekonferenz vor Beginn der Generalversammlung 2023 in Wien. Die OK habe bereits das gesellschaftliche, gemeinschaftliche und geschäftliche Leben untergraben. Dieses Problem könne nur durch mehr Kooperation bekämpft werden, betonte Stock. Polizeibedienstete müssten Zugang zu internationalen Informationssystemen erhalten. Die Interpol-Datenbanken agieren als „globale Frühwarnsysteme“, betonte Stock. Österreich war am Aufbau der Interpol-DNA-Datenbank beteiligt.
„Interpol spielt bei zahlreichen Ermittlungen eine zentrale Rolle“, sagte Österreichs Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit Franz Ruf. „Es sind vor allem die leistungsstarken Fahndungsdatenbanken von Interpol, die den österreichischen Polizistinnen und Polizisten wertvolle und wichtige Unterstützung in der täglichen Arbeit leisten.“

Frieden und Sicherheit.

Alle Menschen sollen in Frieden und Sicherheit leben können. Das sei das gemeinsame Ziel, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer bei der Eröffnung der Generalversammlung am 28. November 2023 in Wien. 100 Jahre nach der Gründung der Interpol habe sich die Kriminalität verändert. „Wir erleben neue Facetten von Terror, Extremismus, illegaler Migration und Schlepperei. Wir sehen vor allem in Zeiten wie diesen, dass internationale polizeiliche Zusammenarbeit wichtiger ist denn je“, betonte Nehammer. „Kriminalität kennt keine Grenzen, weder innerhalb Europas, noch auf anderen Kontinenten. Wir müssen mit aller Macht gegen die gemeinsamen Feinde ankämpfen – gegen organisierte Kriminalität, Terrorismus und Extremismus.“
Innenminister Gerhard Karner betonte die Wichtigkeit der transnationalen polizeilichen Kooperation: „Diese Generalversammlung ist eine Plattform zur Stärkung unserer Zusammenarbeit und für den gemeinsamen Kampf gegen die Kriminalität. Die Internetkriminalität, die brutale und menschenverachtende Schleppermafia, aber auch der Online-Missbrauch von Kindern stellen die Polizei weltweit vor riesige Herausforderungen.“
„Kein Land und keine Region sollte im Kampf gegen die Kriminalität zurückgelassen werden“, sagte Interpol-Präsident Ahmed Naser al-Raisi. „Es ist unsere Pflicht, sie zu stärken, da wir mit einer sich ständig verändernden Kriminalitätslandschaft konfrontiert sind. Jedes Land muss eine Rolle spielen und jeder Beitrag ist wichtig“, betonte Naser al-Raisi, der den Vorsitz über die Generalversammlung führte.

Wachsende Bedrohung.

Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock und Präsident Ahmed Naser al-Raisi; Schlusszeremonie mit Fahnenübergabe
Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock und Präsident Ahmed Naser al-Raisi; Schlusszeremonie mit Fahnenübergabe © Tobias Bosina, Gerd Pachauer

Schwerpunkt des ersten Tages der Generalversammlung war die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft von Interpol. 2022 wurde die Initiative Vision 2030 gestartet, um die strategische Ausrichtung der Organisation im kommenden Jahrzehnt zu steuern. Nun beschlossen die Delegierten, eine Expertengruppe einzurichten, die bei der Umsetzung der Empfehlungen der Initiative unterstützen soll.
Die Delegierten analysierten die wachsende Bedrohung in verschiedenen Weltregionen und auf Kriminalitätsgebieten. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Nutzung von Technologie und neuen Kooperationssystemen.
Bei der Tagung wurde beschlossen, den pazifischen Inselstaat Palau als 196. Mitglied in die Interpol aufzunehmen. „Wir möchten unseren Frieden und unsere Sicherheit schützen, unsere palauischen Werte, unsere Kultur und die Lebensweise bewahren, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben“, sagte Gustav Aitaro, Staatsminister von Palau. „Die Unterstützung von Interpol wird für die Zukunft unserer Polizei und unserer Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung sein“, betonte Aitaro.

Wiener Erklärung.

Die Delegierten verabschiedeten eine Reihe von Resolutionen, etwa zu verstärkten Maßnahmen zur Bekämpfung von Umweltkriminalität und sexuellem Kindesmissbrauch im Internet, ebenso in Bezug auf Verhaltens- und Ethikstandards für die Treffen und den Wahlkampf der Organisation.
Angesichts der zunehmenden Vernetzung krimineller Gruppen und der damit einhergehenden Ausweitung illegaler Aktivitäten wurden in der „Wiener Erklärung“ fünf vorrangige Maßnahmen festgelegt.
1. Die Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität muss auf höchster Regierungsebene als globale Priorität behandelt werden: Die Welt muss zusammenarbeiten, um diese Sicherheitskrise zu lösen.
2. Stärkere Zusammenarbeit zur Bekämpfung krimineller Aktivitäten: Der grenzüberschreitende Informationsaustausch ist von grundlegender Bedeutung und muss die Norm und nicht die Ausnahme sein.
3. Verstärkter Informationsaustausch: Entscheidungsträger in der Polizei, Justiz und nationale Sicherheit müssen ihre Anstrengungen aufeinander abstimmen und Hindernisse für einen besseren Informationsaustausch beseitigen.
4. Stärkung der Polizei an vorderster Front: Polizisten müssen in globalen Datenbanken Zugriff auf Informationen haben, die sie benötigen, um kriminelle Aktivitäten zu unterbinden. Es müssen bessere technologische Unterstützung, Schulung und Informationen zur Bekämpfung der globalen Kriminalität bereitgestellt werden.
5. Höhere Investitionen in Innovation und Technologie: Die weltweiten Investitionen der Strafverfolgungsbehörden in Technologie und Innovation werden von jenen der kriminellen Organisationen übertroffen. Es bedarf einer erheblichen Steigerung der Investitionen in Forschung, Entwicklung und Kapazitätsaufbau. Die Polizei müsse weltweit über die Instrumente verfügen, um die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität zu bekämpfen.

Globale Sicherheitsarchitektur.

Österreichs Innenminister Gerhard Karner betonte zum Abschluss der Konferenz die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit: „Gemeinsame Visionen und Strategien müssen uns Seite an Seite in die Zukunft führen.“ Österreich werde weiterhin ein starker Partner für Interpol sein und zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele im Dienste der Sicherheit beitragen.
Präsident Ahmed Naser al-Raisi sagte, die Wiener Erklärung sei eine echte Verpflichtung zum Schutz von Gemeinschaften, zur Sicherung von Grenzen und zum Schutz der Bürger. „Die darin dargelegten Maßnahmen müssen die Grundlage unseres gemeinsamen Engagements und Handelns sein, um die organisierte Kriminalität wirksamer zu bekämpfen.“ Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock bezeichnete die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität als „Epidemie“. „Um der Komplexität der heutigen Netzwerke gerecht zu werden, müssen wir Brücken zwischen verschiedenen Informationsquellen bauen. Kriminelle werden immer jede Krise ausnutzen. Aus diesem Grund ist ein koordiniertes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden in allen Regionen unerlässlich und wir können uns keine Lücke oder Schwächung der globalen Sicherheitsarchitektur leisten.“ Als einzige Polizeiorganisation, die auf globaler Ebene arbeitet, spiele Interpol eine einzigartige Rolle bei der Unterstützung internationaler Bemühungen, Gemeinschaften zu schützen und die Welt sicherer zu machen, betonte Stock.
Bei der Schlusszeremonie am 1. Dezember 2023 übergab Österreichs Innenminister Gerhard Karner die Interpol-Flagge an den Delegationsleiter des Vereinigten Königreichs, dem Gastgeber der 92. Generalversammlung im Herbst 2024 in Glasgow, wo auch der neue Interpol-Generalsekretär gewählt werden wird, da Jürgen Stock nach zwei Amtsperioden aus dem Amt ausscheidet.

Werner Sabitzer


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 1-2/2024

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